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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Autoren: Sandra Roth
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großer Runde ist das ein Stimmungskiller. Das Schweigen: eine Erinnerung daran, dass meine Normalität anders ist als die der anderen.
    Wenn ich am Sportplatz stehe und eine Mutter erzählt: »Mein Kleiner rennt mir im Supermarkt ständig weg« – und mir rutscht raus: »Dafür ist meine Tochter zu gut erzogen.« In der Sitcom: Lacher vom Band. In Wirklichkeit: Schweigen. Nicht lustig.
    Fünf Minuten später: »Und dann will er ständig auf den Arm, ich schleppe den noch, wenn er zehn ist« – und ich sage grinsend: »Kenn ich.« Nicht witzig.
    »Das ist wahrscheinlich richtig, dass du das mit Humor nimmst«, sagt die Mutter neben mir am Sportplatz.
    Ja. Wenn denn einer lachen würde. Stattdessen erzählt Rafaela jetzt davon, dass ihr Vater einen Herzinfarkt hatte. Niemand lacht, wenn es um behinderte Kinder geht. Natürlich nicht. Das kann ich ja auch erst, seit ich selbst eins habe.

    Als Clara in die Küche geht, neue Kekse holen, gehe ich hinterher. »Was Neues wegen des Integrationshelfers für den Kindergarten?«, fragt sie.
    Ich schüttele den Kopf.
    »Und wegen des Fahrradanhängers?«
    »Abgelehnt«, sage ich. »Aber das war mir klar. Ein Fahrradanhänger ist laut Leistungskatalog kein Hilfsmittel. Wir machen das trotzdem. Lotta kriegt ihn zum dritten Geburtstag.«
    »Hoffentlich gefällt er ihr auch«, sagt Clara.
    »Ja«, sage ich. »Sonst wird das ein kostspieliger Reinfall.«
    Eine Stunde später packt Andrea für das letzte ihrer drei Kinder, ich bin noch bei Lottas Päckchen. Die anderen haben sich Elvis und den Keksen ergeben. »Und wollt ihr jetzt noch ein Kind?«, fragt Clara.
    »Ich weiß nicht«, sage ich. »Vielleicht. Schön wäre es schon.«
    »Harry hört sich da entschlossener an.«
    Ich winke ab. Sie fragt: »Geht er immer noch so viel joggen?« Clara lacht. Ich lache mit. Ich weiß jetzt, was sie macht. Sie macht das Gleiche wie ich, wenn ich anderen erzähle, wie oft Epilepsie nicht erkannt wird. Sie warnt mich: Schätze, was du hast – du könntest es verlieren.
    »Ich könnte das nicht«, sagt Rafaela.
    »Was könntest du nicht? Drei Kinder?«
    »Nein, ein behindertes«, sagt sie und gleich hinterher: »Entschuldigung.«
    »Ist nicht verboten. Warum glaubst du, du kannst das nicht?«
    Sie zögert. »Ich mach mir schon Sorgen, dass ich nicht mehr die Sonntagszeitung lesen kann, wenn ein Baby da ist. Wie soll das erst sein, wenn ...?«
    »Ich bin auch nicht Mutter Theresa. Stell dir vor, ich lese die Sonntagszeitung. Ich arbeite.«
    »Du hast auch Hilfe«, sagt Rafaela.
    »Ja, das stimmt und das ist toll. Hättest du die nicht?«
    »Trotzdem. Ich könnt das nicht.«
    »Vor drei Jahren hätte ich das Gleiche gesagt.«
    Sie packt den Basketballkorb ein.
    »Willst du die Tests machen?«, fragt Clara. »Wenn du schwanger bist.«
    »Auf jeden Fall«, sagt Rafaela. »Alles, was möglich ist und für das Baby keine Gefahr darstellt. Hauptsache, gesund.«
    »Habe ich auch gemacht«, sage ich.
    »Jetzt mach ihr keine Angst«, ruft Andrea dazwischen.
    »Nein, will ich gar nicht. Es ist nur ... Man kann nicht die Fehlbildungen verhindern. Man kann nur das ganze Kind verhindern.« Betroffenes Schweigen. Ich sage leise: »Vielleicht ist ›Hauptsache, gesund‹ falsch. Vielleicht sollte es heißen: Hauptsache, geliebt.«
    Wenn Humor ein Stimmungskiller ist, dann ist es Pathos erst recht. Ich bin auf dem besten Weg, das zu werden, was ich nie werden wollte: monothematisch. Wer hat mich zur Behindertenbeauftragten dieses Abends erklärt? Eigentlich jeden Abend, in letzter Zeit. Nachdem ich mich einmal geoutet habe, scheint es, ich kann nicht mehr damit aufhören. Jetzt ist Schluss. Ich werde diesen Abend genießen. Ich werde die Klappe halten.

    »Christstollen?«, fragt Clara in die Stille. Kopfschütteln. »Eiscreme?«
    »Unbedingt!« Ich entscheide mich für Chocolate-Chip-Eis.
    Wie ist das, ein behindertes Kind zu haben? Kann ich das überhaupt erklären? Wahrscheinlich nicht. Jedes Kind ist anders, auch jedes behinderte. Und meines ist dazu jeden Tag ein bisschen anders. Mal nur am Schreien, mal das Lächeln in Person. Wie alle eben.
    Macht es überhaupt einen Unterschied, ob ein Kind behindert ist oder nicht? Sind es nicht dieselben Fragen, die man lösen muss: Wer arbeitet wann wie viel? Wie bleiben wir ein Paar? Muss man nicht jedes Kind annehmen, ob es nun eine Behinderung hat oder bloß eine schüchterne Ader? Ist es nicht das gleiche Glück, wenn das Kind lächelt? Die gleiche Langeweile,
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