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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Autoren: Sandra Roth
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hätte sie besser nicht gesagt.
    »Wissen Sie, was das mit seinen Zähnen anrichtet?« Harry holt aus. Kieferorthopädie, Fehlstellung. »Und sprachlich – ist er sprachlich normal entwickelt?«
    Die Verkäuferin sieht nun nicht mehr mitleidig aus, sondern nervös. »Wie meinen Sie das?«
    »Ich würde mal zum Logopäden gehen.«
    Als wir gehen, sage ich leise zu Harry: »Wie gemein du bist.«
    »Wer nach drei Jahren immer noch nicht drüber wegkommt, hat nichts anderes verdient.«

    Ein Mann vom Sozialamt ruft an, am letzten Tag der Frist. Als ich auflege, jubele ich wie Ben, wenn er ein Tor macht. Sie erklären sich für zuständig in puncto Integrationshelfer, Post ist unterwegs. »Sie müssen keine Rechtsmittel einlegen.«
    »Und was heißt das?«, fragt Harry. »Kommt jetzt ein Integrationshelfer?«
    »Nein, erst müssen die den Bedarf prüfen und ob die Rahmenbedingungen stimmen. Aber sie sind zuständig.«
    »Also müssen wir weiterkämpfen?«

    Holland im Dezember. Harry montiert den Fahrradanhänger. »Meinst du, das hält so?«
    Ben hüpft um uns herum. »Wir machen eine Fahrradtour, wir machen eine Fahrradtour.« Er trägt Handschuhe und eine Mütze unter seinem Helm, die Sonne scheint, aber der Wind ist kalt. Lotta steckt in einem weiß-blau-rosa-grün geringelten Schneeanzug. Sie reißt die Augen auf. »Gleich fährst du Fahrrad, Lotta«, jubelt Ben ihr ins Gesicht. »Jetzt bist du endlich groß.«
    Statt des Verkehrswimpels haben wir einen Windfänger hinten an die Stange am Anhänger gehängt, ein bunter Fisch, er dreht sich im Wind.
    Ich setze Lotta in den Wagen, Ben steigt auf sein Rad. »Warte« rufe ich.
    Ich neige Lottas Kopf nach vorne und versuche, ihr den Fahrradhelm aufzusetzen. Ich stelle den Helm kleiner. Er ist silbern, mit weißen Sternen und Rallye-Streifen. Die gleiche Marke wie damals Lucas kleiner Skater-Helm. »Fährt Ben auch schon Laufrad?« Drei Jahre ist das her. Melanie habe ich lange nicht gesehen und werde es so bald auch nicht. Luca wird nicht in die Birkenstraße gehen, sondern in eine katholische Grundschule in einem anderen Viertel. Melanie und Steffen ziehen in das Einzugsgebiet der Schule, um sicherzugehen, dass er einen Platz kriegt. »Und ihr geht in die Birkenstraße, oder?«
    »Nein«, habe ich gesagt und mich gefragt, ob es das erste Mal ist, dass Melanie dieses Wort von mir hört. »Wir nehmen die Schule um die Ecke. Ich finde heterogen genau richtig.« Hinten auf Lottas Helm sehe ich jetzt erst den Slogan der Firma: »I love my brain«.
    Wir fahren los. Ich versuche nach hinten zu schauen und fahre einen Schlenker. »Nach vorne gucken«, ruft Harry.
    »Schau mal, wie es ihr geht.«
    »Sie dreht ihren Kopf hin und her. Scheint ihr zu gefallen.«
    Ben rast voran. »Gib Gas«, ruft Harry. Ich rase über eine Bodenwelle. Schreit sie? Ich bremse und fahre langsam weiter. »Alles klar, Lotta?« Ich drehe mich während der Fahrt um und achte darauf, keinen Schlenker zu fahren. Da sitzt sie mit ihrem Riesenhelm. Sie sieht kalt aus. Ich halte an und ziehe ihre Decke aus dem Sitzsack höher.
    Wir rasen auf dem Fahrradweg hinter den Dünen entlang. Ben vorneweg, dann ich mit Lotta im Schlepptau, dahinter Harry. Vor uns ein Paar mit Kindern in Kindersitzen, hinten auf den Gepäckträgern. Ben klingelt wie wild und ruft: »Hier kommen wir!« Wir überholen. Als wir einen Hügel hochfahren, werde ich langsamer. Von hinten höre ich »Eeey«.
    »Schneller geht nicht, Lotta.«
    »Eyyy.«
    »Wenn schon, dann ›Ey, Mama‹!«
    »Sie lächelt«, ruft Harry. »Lotta steht auf Geschwindigkeit.«

    An einer großen Treppe über die Dünen halten wir an. Wir schließen die Räder an. »Am Strand trinken wir einen Kakao«, sagt Harry. »Und wärmen uns auf.« Ich nehme Lotta auf den Arm, wir machen uns an den Aufstieg. Bis zum Himmel ziehen sich die Holzstufen. Harry schiebt Ben an. Ich weiß nicht, was hinter dieser Düne auf uns wartet. Ich weiß nicht, ob Lotta dort in diesem Restaurant laut und glucksend lachen wird. Ihr erstes und letztes Lachen ist jetzt ein Jahr her, ich warte jeden Tag darauf, es noch einmal zu hören. Ich weiß nicht, ob wir uns am Strand zum ersten Mal seit langer Zeit überlegen müssen, wie ein Krankenwagen zu uns kommt. Ihr letzter Krampf ist zwei Wochen her, er hat sich von allein gelöst. Das Diazepam habe ich immer in der Tasche, auch wenn ich es schon lange nicht mehr gebraucht habe. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Vor drei Jahren habe ich an das
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