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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Autoren: Sandra Roth
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Bar. Kamin, schwere Sessel, ein Flügel. Ich stelle das Video-Babyfon vor mich auf den kleinen Tisch. »Wegen deines Angebots ...«, sage ich.
    Harry bestellt. »Was?«
    »Ich will Lotta nicht aus dem Kindergarten reißen. In der neuen Stadt habe ich auch nichts für sie gefunden. Für Ben fände ich es auch besser, wenn er gemeinsam mit seinen Freunden in die Schule geht. Zu Hause habe ich Jodi, meine Mutter, den Großvater, ein Netzwerk. Ich kann nicht aus Köln weg.«
    »Verstehe.« Harry sieht nicht überrascht aus. Ist er enttäuscht?
    Ich sage: »Und wenn nur du gehst?«
    »Wie meinst du das denn?«
    »Pendeln.«
    »Pendeln?«
    »Es wäre ja nicht für immer, nur drei Jahre. Und wenn wir nach einem Jahr merken, es geht nicht, dann geht es eben nicht länger.«
    »Willst du das wirklich?« Harry mustert mich über sein Glas. »Würdest du klarkommen?«
    »Denk an Caro und Thomas.« Er arbeitet in München und ist nur am Wochenende da. »Oder Lisa.« Ihr Mann kommt alle zwei Wochen. Istanbul.
    »Aber mit Lotta ist das doch etwas anderes, oder?«
    »Ich habe mein Netz.« Natürlich will ich nicht, dass er pendelt. Natürlich wäre es hart, alles alleine zu stemmen. »Lieber du bist nur ab und zu da und glücklich als immer da und kreuzunglücklich. Ich weiß doch, wie gern du das machen würdest.«
    »Jetzt bist du übergeschnappt«, wird Clara später sagen.
    »Wen man einsperrt, der bricht irgendwann aus«, werde ich entgegnen. »Jetzt kann er sich überlegen, was er will.«
    Kein Teil der Familie soll zu kurz kommen, steht in den Broschüren.
    In der Bar sagt Harry: »Das meinst du doch nicht ernst. Wenn ich das mache, bist du sauer.«
    »Nein«, sage ich. »Ehrlich.«
    »Aber wie sollen wir das als Familie überstehen?«
    Jakob betritt die Bar, seine Schwester und sein Vater hinter ihm. Sie setzen sich in die Sitzgruppe neben uns. »Das wird dir gefallen«, sagt sie. Ein Mann setzt sich an den Flügel, höflicher Applaus. Er stimmt » Somewhere over the rainbow « an. Jakob springt mit einem Satz auf die Füße und will zum Flügel, seine Schwester und sein Vater zerren ihn mit Kraft zurück und drücken ihn fast gewaltsam in den Sessel. »Nur zuhören«, sagt die Schwester und lässt die Hand auf seinem Arm liegen. Jakob summt mit und klatscht frenetisch, als das Lied zu Ende ist. Als wir gehen, sitzen die drei immer noch in ihren Sesseln und lauschen der Musik.
    Als ich am nächsten Nachmittag an der Bar vorbeikomme, Lotta auf dem Arm und auf dem Weg zum Wickeln, sehe ich durch die Tür Jakob neben seiner Mutter am Flügel. Er schlägt eine Taste nach der anderen an. Pling, pling, pling. Alleine sitzen sie in der Bar, die Kamine sind aus. Somewhere over the rainbow .

    »Eigentlich müsste jetzt die beste Zeit sein, um behindert zu sein, oder?« Harry und ich am nächsten Abend wieder in der Bar. Der Pianist improvisiert. Harry nickt mit dem Kinn zu Jakob. »Das wäre vor siebzig Jahren undenkbar gewesen.« Er spricht es nicht aus und doch stehen kurz die Worte Rassenhygiene, Zwangssterilisation, KZ im Raum. Schätzungsweise 200 000 behinderte und psychisch kranke Menschen wurden damals ermordet, durch Medikamente, Nahrungsentzug oder Vergasung. Wir schauen zu Jakob. Harry sagt: »Und heute: Die Paralympics waren ein Quotenerfolg.«
    »Hast du gelesen, wie das britische Fernsehen dafür geworben hat: Meet the Superhumans.«
    »Ist doch toll.«
    »Klar, aber mir wäre Normalität lieber. Entweder sie werden auf der Straße mitleidig angestarrt oder im Fernsehen als Übermenschen bejubelt. Wann wird es endlich normal, anders zu sein?«
    »Ist das hier nicht Normalität?«, sagt Harry und blickt zu dem summenden Jakob. »Und vielleicht geht Lotta irgendwann auf die gleiche Schule wie Ben.«
    »Meinst du, wir sollen diese inklusive Schule nehmen?«
    »In der Birkenstraße?«
    Der Pianist endet. Wir klatschen.

    Am nächsten Morgen sitzen am Nebentisch neue Gäste. Ein junges Paar mit einem Baby, höchstens sechs Monate. Es gluckst und lächelt. »Guck mal«, sagt Ben. »Das kann seine Flasche halten.«
    »Willst du noch ein Geschwisterchen?«, fragt Harry.
    Ich sage: »Was?«
    Harry: »Das wäre süß, oder, Ben? Noch ein Baby?«
    Ich: »Sollten wir das nicht erst zu zweit besprechen?«
    »Was hättest du lieber – einen Bruder oder eine Schwester?«
    Ben überlegt. »Einen Bruder. Einen, der laufen kann.«
    Wieder zu Hause. Ben ist bei Floris eingeladen. Geburtstag, Piratenparty, zehn Kinder mit Augenklappen.
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