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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Autoren: Sandra Roth
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62 Jahre, klein, schmal, auf dem Kopf einen Dschungel roter Haare und, wie Ben sagt, »super in Kung-Fu«. In einem früheren Leben hat sie in einem Kindergarten gearbeitet, danach die Tochter unserer Nachbarn betreut. Wir kannten sie schon drei Jahre, als Ben geboren wurde. Dank ihr konnten wir damals ganz leicht ein Paar bleiben und öfter mal ausgehen, später konnte ich ein paar Stunden die Woche arbeiten. Jetzt ist sie unsere Rettung.
    Zweimal täglich Wehenschreiber und Herztöne vom Baby. Überwachen, mehr können sie nicht tun. Ich liege auf der Geburtenstation und bin froh, dass sie mir ein Einzelzimmer geben. Wenn ich auf dem Flur ein Neugeborenes sehe, schaue ich weg. Morgens sagt die Schwester: »Ich habe Sie heute Nacht weinen gehört. Kann ich etwas für Sie tun?«
    »Nein«, sage ich und drehe den Kopf weg.
    Ich lebe allein unter all diesen Menschen, ich schaue keinem in die Augen, ich mache den Mund kaum auf. Nur wenn ich beim Ultraschall liege, rede ich vor mich hin, erzähle in einem Schwall von Bens ersten Zähnen, von unserem Fliesenleger, vom Wetter. Ich will die Herztöne nicht hören. Die Namen der Schwestern, die neben mir sitzen, merke ich mir nicht.
    Erste Reaktionen. Harry: »Wir schaffen das. Als meine Mutter gestorben ist, hat uns das als Familie enger zusammengeschweißt.«
    Der Großvater: »Was kann man denn da machen?«
    »Wissen die Ärzte noch nicht. Sie recherchieren. Vielleicht gibt es eine Methode mit Kathetern.«
    »Was sind denn das für Ärzte? Kann doch gar nicht sein, ihr habt doch alle Untersuchungen gemacht. Es war doch immer alles gut. Die irren sich bestimmt.«
    Als Melanie anruft, lasse ich den Anrufbeantworter rangehen.
    Den Fernseher oben in der Zimmerecke lasse ich den ganzen Tag angeschaltet. Wenn Werbung für Windeln kommt, schalte ich um. Häufig sitzt Harry neben mir und schimpft auf die Ärzte, die immer noch nicht wissen, was man tun kann, die nicht helfen können und mich dennoch nicht gehen lassen. Ich sage nichts. Ich bin nicht wütend. Ich bin neidisch. Harry kann nach Hause gehen – allein. Für mich gibt es kein Entkommen. Jede Bewegung von Lotta tritt eine Gedankenkette los. Früher habe ich in solchen Momenten kleine, strampelnde Füße vor mir gesehen und mich gefreut. Jetzt denke ich bei jeder Bewegung an ein ausgemergeltes Wesen aus einem Glaskasten und habe Angst.
    »Hast du ›Alien‹ gesehen?«, frage ich Harry, als er endlich mal schweigt.
    Er zwingt sich zu einem Lächeln. »Heißt das, ich habe Sigourney Weaver geheiratet?«
    Wir tauschen ein vorsichtiges Grinsen.
    »Es hätte schlimmer kommen können«, sage ich.
    »Findest du?«
    »Rosemarie, Baby«, sage ich. »Denk an Rosemarie.«

    »Da muss man chirurgisch dran«, sagt ein Arzt. »Den Kopf aufschneiden. Ausgang ist fast zu hundert Prozent letal. Und falls es doch überlebt, dann äußerst schwer behindert. Darauf müssen Sie sich einstellen.«
    Er steht vor meinem Bett, es ist 18 Uhr abends, das Tablett mit dem Abendessen steht schon auf meinem Nachttisch. Ich sage: »Aber ein anderer Arzt hat doch gesagt, vielleicht ...«
    »Das ist nicht mein Fachgebiet und ich lasse mich gerne korrigieren«, sagt er mit verschränkten Armen. »Aber ich irre mich selten.«
    Als er zur Tür raus ist, klappe ich vornüber und schreie die Verzweiflung heraus. Schreie in Harry hinein, der seine Arme um mich legt, schreie so laut, dass eine Schwester hereineilt und mir Valium anbietet.
    »Wenn Sie sagen, dass Sie sonst vom Dach springen, finden Sie noch einen, der es wegmacht«, höre ich von einem anderen Arzt.
    Abtreiben, das hieße im neunten Monat aktiv töten. Eine Kaliumchlorid-Spritze in das Herz meines Babys, das ich dann tot auf die Welt bringen müsste.
    »Aber ich kann nicht vom Dach springen«, antworte ich. »Ich habe schon einen Sohn.«
    Der Arzt zuckt mit den Schultern. Ich ärgere mich. Was sage ich da? Sollte ich jetzt taktisch denken? Nichts Falsches sagen, um nicht die Chancen auf eine Spätabtreibung zu verspielen?
    Ich denke an Tina. Sie hat abgetrieben, der Vater war nicht der Richtige. Carola. Sie war noch im Studium. Anna. Es wäre schwerbehindert gewesen. Sie war im sechsten Monat, die anderen in den ersten zwölf Wochen, innerhalb derer eine Abtreibung sehr einfach möglich ist. Eine hat es mir selbst erzählt, von den anderen haben die anderen erzählt. Bitte behalt es für dich. Du Arme. Die Arme. Das war bestimmt schwer. Wie geht es dir? Willst du …? Kann ich ...? Lange Rede
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