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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Autoren: Sandra Roth
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spielt. Ein Junge, geboren mit Ziegenfüßen, seine Mutter hat ihn ausgesetzt. Jetzt sitzt er hier auf unserem Brunnen und spielt. Daneben steht in einem Vorgarten eine Frau und buddelt im Sandkasten. Mit einer großen Schaufel hievt sie Sand in Müllsäcke.
    Sie bemerkt meinen Blick und sagt: »Für den Winter klarmachen. Das sagt einem auch keiner vorher, wie viel Arbeit das ist.«
    Ich lache. »Das gilt ja für Kinder allgemein, oder?«
    »Clara«, sie wischt ihre Hand an der Hose ab und streckt sie über die kleine Steinmauer.
    »Sandra.«
    »Auch neu hier?«
    Wir tauschen Nummern. Neue Nachbarn, Bens neue Spielkameraden – seit Kurzem lernen wir ständig Leute kennen. »Als wären wir neu in der Schule«, sagt Harry. »Was meinst du, werden das unsere neuen Freunde?«
    Ich genieße die letzten Minuten in unserem Dorf. Die kleine Straße führt auf eine große zu. Vier Spuren, Straßenbahn, Bäcker, Metzger und das Ärztehaus. Dort beginnt die Stadt. Auch zehn Minuten Fußweg Richtung Norden verläuft eine breite Straße wie eine Grenze. Auf der anderen Seite beginnen die großen Mietshäuser. »Hinten raus«, sagen unsere Nachbarn und es klingt wie »Problembezirk«.
    Mit dem Fuß kicke ich eine Kastanie vor mir her. Ein silberner Sportwagen fährt neben mir über das Kopfsteinpflaster, er hält, Frau Girschke lässt langsam die Scheibe runter. »Alles gut mit dem Baby?«
    »Alles gut!«
    Sie war eine der Ersten, die bei uns vor der Tür standen, blond, schlank, Reiterstiefel. Unschätzbar zwischen Anfang 50 und Anfang 60, »garantiert operiert«, wie Melanie später sagen wird. In der Hand ein Bagger für Ben. »Willkommen.« Ihr Jüngster ist 18 und schon fast aus dem Haus wie die anderen zwei. »Wenn Sie mal jemand brauchen für die Kinder ...?«
    Ich habe den Kopf geschüttelt und von Jodi erzählt. So hat Ben unsere Kinderfrau getauft. Wir teilen sie uns mit Freunden. Jodi geht mit Ben auf den Spielplatz, wenn ich einen Artikel schreibe oder wie jetzt zum Arzt gehe.
    Frau Girschke streckt die Hand aus dem Autofenster. »Darf ich?«
    Nein, denke ich und sage: »Ja, klar.« Sie ist sowieso auf Bauchhöhe, wie sie so im Auto sitzt.
    Sie schiebt meinen Mantel auseinander, legt die Hand auf das Rund und redet mit dem Baby: »Bald kommst du raus da. Du wirst sehen, hier gibt es viele Kinder.«
    Die Familie mit den meisten Kindern am Platz kommt auf sechs – und zwei große Bernhardiner. Gleich am ersten Tag hat Frau Girschke gefragt: »Ben bleibt aber kein Einzelkind, oder?« »Nein«, haben Harry und ich gesagt – gleichzeitig. Drei Monate später war ich wieder schwanger.

    Meine Gynäkologin stutzt.
    »Stimmt etwas nicht?«, frage ich. Sie schaut auf den Monitor, minutenlang. Sie antwortet mir nicht. Sie schiebt den Schallkopf hin und her. Sie ändert die Einstellung am Monitor, auf dem Bild flammen rot und blau die Blutströme auf.
    »Stimmt etwas nicht?«
    Sie sieht mich an. »Da ist sehr viel Blut im Gehirn. Sie fahren jetzt in die Klinik.«
    Die Folsäuretabletten, denke ich. Ich habe sie gestern vergessen. In meiner Handtasche suche ich mein Handy. Ich rufe Harry an. Er sagt, er wird sein Fahrrad beim Büro stehen lassen und mit dem Taxi kommen.
    Ich traue mich. »Ich habe die Folsäuretabletten vergessen.«
    »Das ist es nicht.«
    Natürlich nicht, denke ich. Wie albern.
    Die Arzthelferin wird später sagen: »Sie wirkten so gefasst, Sie haben gar nicht geweint.« Ich bin nicht gefasst. Ich bin nicht da. Ich erlebe das Geschehen um mich herum, als würde es mich nicht betreffen, wie durch eine Wand. Durch die innere Stille dringt nicht der Taxifunk, nicht das Zufallen der Autotür, als wir im Krankenhaus ankommen. Ich höre nur mein eigenes Stoßgebet: Es wird alles gut gehen, es ist immer alles gut gegangen, es muss, es darf nichts Schlimmes sein. Ich werde erst fünf Tage später wieder nach Hause kommen.

    »Wir hatten immer nur Glück«, wird Harry sehr viel später sagen. »Vorher.«
    War das so? Unsere Zeitrechnung machte einen Knick an diesem Tag, einen scharfen Zacken nach unten. Sie hörte an einem Punkt auf und setzte an einem anderen wieder an. Es gibt jetzt ein Vorher und ein Nachher. Und zwischen beiden eine Schlucht, so tief und breit, dass es schwer ist, die andere Seite zu erkennen.

2

»Wenn Sie sagen, dass Sie sonst vom Dach springen ...«
Von Ärzten, die sich selten irren, und der Frage:
Sollen wir abtreiben?
    Ich liege in einer engen Röhre. Ich muss die Augen zusammenkneifen
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