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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Autoren: Sandra Roth
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Nachbarschaft.

    Hoffentlich sind unsere Vorhänge bald da, denke ich. Wenn ich unser Wohnzimmer betrete, fühle ich mich, als träte ich aus dem Schatten auf eine hell erleuchtete Bühne. Die Fenster fangen auf Kniehöhe an. »Viel Licht«, sagt Harry dazu. »Ist doch schön.«
    Ich weiß schon jetzt, was kommen wird. Ich werde die Vorhänge zuziehen, er wird sie aufziehen, auf, zu, auf, zu. Immer im Wechsel, versetzt um eine Viertelstunde; wenn es schlecht läuft, versetzt um Minuten. Wie bei Loriot. Wir sind nun seit fünf Jahren ein Paar, seit dreien verheiratet, noch können wir lachen über die Sketche, die unsere Ehe aufführt.
    Zehn Jahre Altersunterschied trennen uns, ich bin 32 Jahre alt, Harry 43. Anderes eint uns: Wir sind beide Journalisten. Wir reden, reden, reden. Am liebsten darüber, wie schön alles ist. Wie praktisch die neue Küche, wie erstaunlich unser Sohn, wie herrlich das Leben. Als Kind hatten wir den gleichen Spitznamen: Sonnenschein. Heute rufen wir Ben so.
    Ich muss mir einen hübscheren Bademantel kaufen, denke ich. Es dauert noch, bis die Vorhänge kommen. Mein blauer sitzt wie ein Sack und verliert an den Ärmeln schon Fäden. »Ist doch egal«, sagt Harry immer. »Ich finde dich auch so schön.« »Schleimer«, sage ich dann. Und werfe den Bademantel wieder nicht weg.
    Bald wird mir sowieso nichts anderes mehr passen. Ich ziehe an meinem Wintermantel, während ich durch die Kälte laufe. Noch sieben Wochen bis zum errechneten Geburtstermin. Im Takt meiner Schritte zähle ich die Wochen rückwärts wie beim Countdown, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, Take off. Ich träume von meinen alten Jeans. Ich kenne das schon von meiner ersten Schwangerschaft.
    Ben ist jetzt zweieinhalb Jahre alt und bald schon ein großer Bruder. Wir wollten das so. Spucken, Koliken, alle zwei Stunden wach – wir wissen, was auf uns zukommt. Nur das erste Jahr wird hart, danach geht Ben in den Kindergarten und die Kleine kann schon alleine laufen und essen.
    »Dann lassen wir es ruhiger angehen«, hat Harry gesagt. »Keine Baustellen in nächster Zukunft und keine Babys – einfach nur leben.«
    »New York«, habe ich geantwortet. »Weißt du noch?«
    »Mit zwei kleinen Kindern?«
    Verrückt. Da habe ich das große Glück unter meinem Mantel und träume von New York City.

    »Elmar« – diesen Namen wünscht Ben sich für das Baby, nach seinem Lieblingselefanten, Held seiner Kinderbücher. »Der Elefant ist ein Junge«, habe ich ihm erklärt. »Unser Baby wird ein Mädchen.«
    Sie soll Lotta heißen. Hoffentlich hält er sich daran, denke ich. Was er sich in den kleinen Schädel setzt ... Nicht, dass Lotta mit drei Jahren auf den Spitznamen Elmar hört. Eben habe ich Ben auf den Kopf geküsst und gesagt: »Mama geht zum Arzt, das Baby angucken.« Ich sollte jetzt schon Lotta sagen. »Mama geht zum Arzt, Lotta angucken.« Um sicherzugehen.
    Ich bleibe stehen und versuche, am Bauch vorbei würdevoll an das Ende des Reißverschlusses zu kommen, um den Mantel zu schließen. Ich gebe auf und falte stattdessen die Arme. Mit verschränkten Armen laufe ich weiter.
    Ein Mädchen! »Alles richtig gemacht«, hat mein Schwiegervater zu dieser Nachricht gesagt und mir auf die Schulter geklopft. Er ist 80 Jahre alt, Witwer, weiße Haare, die 1,86 Meter schon gebeugt. Ein Gehstock, den er ständig zu Hause vergisst, aus Stolz. Drei erwachsene Kinder und bis vor zwei Jahren keine Enkel. Als wir ihm die ersten Ultraschallbilder von Ben gezeigt haben, ein grauer Schatten auf einem dunklen Hintergrund, hat er sie in seine Brieftasche gesteckt und behalten. Von den Nachbarn bis zur Dame hinter der Fleischtheke hat sie jeder gesehen. »Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt«, hat er gesagt und gebeten: »Ich möchte nicht Opi heißen. Ich bin der Großvater.«
    Um ihm eine Freude zu machen, habe ich mit Ben das lange Wort geübt. Der alte Mann strahlt immer, wenn er es hört. Am besten zur Begrüßung durchs Treppenhaus nach oben gerufen, mit heller Kinderstimme, die alle Wohnungstüren durchdringt. »Grosfata, Ben daaaa!«
    Nach dem Arzt werde ich zum Copyshop gehen und ihm die neuesten Ultraschallbilder von Lotta kopieren. »Das machst du toll«, wird er mich wieder loben für das Leben, das in meinem Bauch heranwächst. Ein körperlicher Vorgang – doch in seinen Augen eine heroische Leistung. Ich fühle mich tatsächlich, als hätte ich etwas getan, um dieses Glück zu verdienen. Als hätte ich beim
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