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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Autoren: Sandra Roth
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Klinik, nach der Reputation der Ärzte. Doch im Grunde brauchen wir nur das. Wer uns anlächeln kann, statt nur sorgenvoll zu schauen, der muss uns auch helfen können. Wer Witze machen kann, der kann auch unser Kind retten.
    Feldkamp übernimmt die Führung, er leitet uns durch die Gänge, in denen wir uns vorher verlaufen hatten. »Jetzt schauen wir erst mal«, sagt er und betritt einen winzigen Raum mit Liege, Computer, Ultraschallgerät. »Pagels«, stellt sich ein zweiter Arzt vor. »Ich bin der Geburtshelfer.« Braune Augen und ein Händedruck, so sanft, als hätte er Angst, dass ich an ihm zerbrechen könnte. Feldkamp telefoniert: »Familie Roth ist da.« Und zu uns: »Professor Brassel kommt gleich.«
    Auftritt Brassel. Schnelle Schritte, weißer Kittel, randlose Brille, die er auf der Nasenspitze trägt. Sonnengebräunt. »Wie war der Urlaub?«, fragt Feldkamp, hochgezogene Augenbrauen. »Muss ja«, sagt Brassel lächelnd. »Unverschämtheit«, sagt Pagels.
    »Unser Trio« werden wir die drei nennen und sie zu unseren Rettern erklären. Als wir zu Hause sind, entwerfen wir eine ganze Vorabendserie um sie herum. »Die drei aus Duisburg«, schlage ich vor. »Die Docs aus Duisburg?«, sagt Harry.
    Feldkamp in der Rolle des Kinderarztes, der schon alles gesehen hat. Pagels als Schwarm der Schwangeren, mitfühlend bis mitleidend. Brassel, das Genie, versunken in den Hirnwindungen seiner kleinen Patienten. Fast können wir die Erkennungsmelodie der Serie hören. »Da, daa, da, da, daadiiii«, summt Harry. Duisburg, Hochöfen, Schwenk über Schlote. Schnitt. Wehende weiße Kittel, Brassel mit Maske vor dem Mund und grünem Häubchen auf dem Kopf, Feldkamp mit einem Kind lachend, Pagels mit einer Schwester flirtend. Die drei, wie sie frotzeln und witzeln, mit Currywurst in der Kantine, wie die Tatortermittler an ihrer Bude am Rhein. »Und alle Kinder werden gerettet«, sagt Harry. »Happy End.«
    Verklären wir unsere Ärzte? Machen wir sie zu den Rettern, die wir so dringend brauchen?

    »Achtung, das wird jetzt kalt.« Pagels schüttelt die Flasche mit dem Ultraschallgel und spritzt mir die Flüssigkeit auf den Bauch. »Es kann sein, dass alles schnell vorbei ist«, wird Feldkamp später sagen, als wir mit ihm alleine sind. »Dass kurz nach der Geburt das Herz versagt. Und wenn nicht – ich schaue mir das Gehirn an. Wenn es zu sehr gelitten hat und es keinen Sinn mehr hat, dann sage ich Ihnen das. Dann gehe ich diesen Weg mit Ihnen.«
    Die Worte »sterben« oder »sterben lassen« fallen nicht und sind doch da. Wir planen eine Geburt und ich muss schon an die Bestattung denken.
    Pagels schiebt den Schallkopf auf meinem Bauch hin und her. Die rot-blauen Bilder tauchen auf dem Bildschirm auf. Rot das Blut, das auf den Schallkopf zufließt, blau das Blut, das von ihm wegfließt. Zu viel Rot, zu viel Blau, ein riesiger Wirbel in Lottas kleinem Kopf, dort, wo auf dem MRT-Bild der schwarze Fleck in ihrem Gehirn zu erkennen war. Ein Strudel aus Blut, das nicht ins Gehirn fließt, wie es sollte, sondern daran vorbei.
    Feldkamp und Brassel stehen neben meiner Liege. Harry sitzt auf einem Stuhl, in die Ecke gequetscht. Weit weg. Ich drehe den Kopf zur Wand. »Beeindruckend!«, flüstert Brassel. Ich blicke zu ihm, er klemmt seine Unterlippe zwischen die Zähne und kaut darauf. »Wirklich beeindruckend«, sagt er noch mal. Es klingt wie etwas Gutes.
    In seinem Büro hält Brassel später das, was man nur eine Vorlesung nennen kann. Er holt Fachbücher raus, zeigt uns Bilder von Gehirnen, erklärt, redet drei Stunden lang und wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Wir versuchen nach den Fetzen zu greifen, die wir schon kennen. Venöses Blut, arterielles, Autoregulation des Gehirns, das an einigen Stellen zu viel Blut, an anderen dafür zu wenig hat und deshalb immer mehr anfordert, das Herz, das pumpt und pumpt und pumpt.
    »Hast du das verstanden?«, fragt Harry später. »Du schreibst doch auch über Wissenschaftsthemen.«
    »Das ist etwas anderes.«
    Hängen bleibt ein Foto. Ein Junge um die zwölf Jahre, braune Haare, Kinn in der Luft, vor einem riesigen Farnwedel. Puerto Rico. »Die Eltern wollten nach all der Zeit mal wieder weit weg fahren, ich habe gesagt, machen Sie das. Das geht schon«, erzählt Brassel. Darf man mit Vena-Galeni-Kindern nicht verreisen?, wundere ich mich. Und doch. Da steht dieser Junge, auf dem Foto sieht er gesund aus, lebendig. Auch er war einmal hier. Auch seine Eltern saßen in diesem
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