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London

London

Titel: London
Autoren: Edward Rutherfurd
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doch belastbar; trotz seines flachen Rumpfes stabil genug, um damit, falls nötig, zur See zu fahren. Die Ruder und die Strömung brachten es voran, und wenn der Wind hinter dem Boot stand, konnte mit Hilfe des kleinen Segels auch die Gegenströmung des Flusses besiegt werden. Als Anker diente ein schwerer Stein, der in einem geflochtenen Käfig lag.
    Am nächsten Tag kam die Flut kurz vor der Abenddämmerung, und so holten Vater und Sohn das Weidenboot bei frühem Tageslicht hervor und nutzten die Ebbe, um sich von ihr viele Stunden lang flußabwärts treiben zu lassen. Außerdem wehte ein leichter Westwind, so daß sie das kleine Ledersegel setzen und sich einfach zurücklehnen und das Ufer an sich vorbeiziehen lassen konnten. Zum Lenken diente ein breites Ruder. Als sie in den Fluß hineingeglitten waren, hatte sich Segovax noch einmal umgedreht und seiner am Rand der Landzunge stehenden Mutter zugewinkt, doch sie hatte nicht zurückgewinkt.
    Auf seinem Weg aus dem Inneren der Insel beschrieb der Fluß viele riesige Mäander, und kurz hinter Londinos setzte er zu einer Reihe von Windungen an, die eine Art Doppel-S bildeten. Etwa eine Meile von Londinos' östlichem Hügel entfernt begann eine große Biegung Richtung Norden, dann legte der Fluß sich wieder steil nach rechts und schien fast kehrtzumachen auf seinem Weg nach Süden.
    Es war ein klarer Tag. Weiter flußabwärts sah Segovax, daß das Wasser des Flusses auch hier so sauber und klar war, daß man den Grund sehen konnte, der manchmal sandig, manchmal sumpfig war oder aus Kies bestand. Nach ein paar Stunden aßen sie die Haferküchlein, die Cartimandua ihnen mitgegeben hatte, und löschten ihren Durst mit Wasser, das sie mit der Hand aus dem Fluß schöpften.
    Als der Fluß sich allmählich öffnete, wurde dem Jungen zum erstenmal die Landschaft bewußt, in der er lebte. In Londinos waren die Höhenzüge kaum zu sehen. Es gab zwar Hügel hinter dem Weiler, die sich in einer Reihe von niedrigen Ketten etwa fünf Meilen lang hinzogen, bis sie höher wurden. Doch diese Hügelkette, die überwiegend aus Lehm bestand, lag innerhalb der geschwungenen Seite der großen Kreidewände Richtung Süden und verbarg diese vor den Blicken der Leute, die am Fluß lebten. Auch am nördlichen Ufer des Flusses kannte der Junge nur die sanften, mit Wäldern bedeckten Hügel, von denen viele kleinere Bäche herabflossen und die den Hintergrund für die Zwillingshügel am Ufer des Flusses bildeten. Hinter ihnen sah man zwar ansteigende Terrassen und eine Reihe von Vorsprüngen und Hügelketten, doch von den großen Kreidefelsen, die hinter diesen inneren Hügelketten aus Lehm und Sand im Nordosten aufragten, hatte er nichts geahnt.
    Aber nun, ein Dutzend Meilen flußabwärts von Londinos, enthüllte sich eine ganz andere Landschaft. An der linken Seite des Flusses, wo der Nordrand des großen Kreide-Vs bereits mehr als dreißig Meilen entfernt lag, war es flach und sumpfig. Hinter dem Uferbereich, erklärte ihm sein Vater, lag ein riesiges Wald- und Sumpfgebiet, das sich über mehr als hundert Meilen weit in einem großen Bogen ausdehnte und die Ostküste der Insel mit ihrer endlosen, wilden Küstenlandschaft bildete. »Dieses Land ist riesig und sehr rauh«, erklärte er dem Jungen. »Dort lebt Häuptling Cassivelaunus. Sein Volk ist wild und unabhängig. Nur ein mächtiger Mann wie er kann es beherrschen.«
    Rechts, am Südufer des Flusses, war die Landschaft wieder anders. An dieser Stelle kamen die hohen Kreidehügel bis zum Fluß herab und ragten in einer steilen Wand nach oben, hinter der sich weitere hohe Wände auftürmten und nach Osten erstreckten.
    »Das dort ist Kent, das Land der Cantii«, fuhr der Vater fort. Und er erklärte dem Jungen die landschaftlichen Merkmale der langen, südöstlichen Halbinsel und daß man an einem klaren Tag jenseits des Meeres die neue römische Provinz Gallien sehen könne.
    »Sind die Cantii auch so wild wie die Stämme auf der Nordseite der Flußmündung?« fragte Segovax.
    »Nein«, antwortete sein Vater lächelnd. »Aber sie sind reicher.«
    Am Nachmittag zeigte sich ihnen allmählich die Flußmündung. Der Fluß war bereits eine Meile breit. Zur Linken begann die niedrige Küste sich immer weiter zu öffnen; zur Rechten erstreckten sich die hohen Kreidefelsen von Kent bis zum Horizont. Dazwischen lag das offene Meer. Segovax starrte auf das Meer, sah die weißgekrönten Wellen, roch die dichte, salzige Luft. Erregung durchflutete
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