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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit
Autoren: wood
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Teetrinken schien Anna gelöster und lebhafter zu werden. »Wie aufregend muß dieser Besuch für dich sein. Nach so langer Zeit!«
    »Ja, sehr aufregend«, sagte ich langsam.
    An den Wänden hingen keine Porträts, keine gerahmten Daguerrotypien, die mir einen Hinweis hätten geben können, wie die anderen Angehörigen meiner Familie aussahen. Tatsächlich wußte ich nicht einmal, wie viele Menschen unter diesem Dach lebten, ob sie mich kannten, sich meiner erinnern würden. Ein inneres Gefühl warnte mich davor, Anna wissen zu lassen, daß ich hier fremder war als sie ahnte. Zumindest vorläufig, bis ich sie – und die anderen – besser kannte, wollte ich das für mich behalten.
    »Du warst ein entzückendes Kind«, plauderte sie weiter. »Und wie ähnlich du deiner Mutter bist. Wirklich, als ich dich vorhin in der Halle sah, glaubte ich, du wärest Jennifer.«
    »Oh – danke.« Ich war wirklich geschmeichelt. Meine Mutter war eine Schönheit gewesen.
    »Aber sag doch – « Sie rührte gedankenverloren in ihrem Tee. »Wie geht es deiner Mutter überhaupt?«
    Ich senkte den Kopf. Zwei Monate waren vergangen, aber immer noch war es so schmerzhaft, als wäre es gestern gewesen. »Meine Mutter ist tot.«
    »Tot? Oh, das tut mir aber leid!« Schwang da nicht Erleichterung in ihrer Stimme. »Dein Vater und mein Mann waren Brüder. Ich fühlte mich mit ihr immer wie mit einer Schwester verbunden. Wir haben viele vergnügte Stunden zusammen verlebt, deine Mutter und ich.«
    Ich sah diese redselige Frau erstaunt an. Niemals, so weit ich zurückdenken konnte, hatte meine Mutter Anna Pemberton erwähnt. »Dein Onkel Henry wird sich sehr freuen, wenn er dich sieht. Er und Theo – dein Vetter Theodore – haben dich immer mit einem Spitznamen gerufen. Erinnerst du dich? Sie nannten dich Bunny, weil du immer herumgehüpft bist wie ein kleines Häschen. Damals warst du fünf Jahre alt, Leyla. Ja, es ist lange her.«
    Nicht die leiseste Erinnerung daran regte sich. Die Jahre bis zu meinem sechsten Geburtstag lagen in tiefstem Dunkel. Es war, als wäre ich in London zur Welt gekommen und nicht hier. Vor vielen Jahren hatte ich in kindlicher Neugier meine Mutter gefragt, warum ich mich nicht wie andere an meine frühe Kindheit erinnern konnte. Die kurze Antwort, die sie mir gegeben hatte, hatte nichts geklärt. »Das liegt an dem, was damals geschehen ist«, hatte sie gesagt und war auf weitere Fragen von mir nicht eingegangen. Danach hatte ich das Thema nie wieder zur Sprache gebracht.
    »Und deine Cousine Martha erinnert sich natürlich an dich. Sie war zwölf, als man dich – äh, als du von hier fortgingst.« Anna schwieg, und ich hatte einen Moment Zeit, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Bildete ich es mir ein, oder war das Verhalten dieser Frau äußerst vorsichtig? Ihre Sprechweise erschien mir verkrampft und zögernd, als fürchte sie ständig, etwas Falsches zu sagen. Sie ließ noch ein Stück Zucker in ihre Tasse fallen und rührte wieder geräuschvoll um. »Großmutter kann dich jetzt noch nicht empfangen. Du hast also Zeit, dich frischzumachen.«
    Ich zog die Brauen hoch. Eine Großmutter hatte ich also auch. Innerhalb weniger Minuten war aus der Waise Leyla Pemberton eine junge Frau mit einer großen Familie geworden.
    Anna wandte sich jetzt von mir ab und zwang sich, scheinbar gleichmütig ins Feuer zu blicken, doch ich spürte deutlich, daß sie nicht die gelassene Gastgeberin war, die sie mir vorzuspielen suchte. »Und wenn du deinem Vetter Colin begegnen solltest«, sagte sie jetzt mit einem künstlich scherzhaften Lächeln, »dann solltest du ihm am besten mit einer höflichen Entschuldigung aus dem Weg gehen.« Ich hatte also noch einen Vetter. »Warum denn?«
    »Nun, Colin ist – wie soll ich sagen?« Sie lachte ein wenig. »Er hat eine Neigung zur Exzentrik. Wir haben ihn alle von Herzen gern, aber er schlägt gern einmal über die Stränge, wenn du verstehst, was ich meine. Er hat überhaupt keine Manieren, und es wäre mir gar nicht recht, wenn du ihn vor den anderen kennenlernst. Du wirst ihn natürlich kennenlernen, aber erst später, nach Theodore und Martha.«
    »Danke«, sagte ich ohne Überzeugung. Da ich die Frau überhaupt nicht kannte, wußte ich nicht, wie ich ihre Worte auslegen sollte. Wollte sie mich vor Colin schützen oder Colin vor mir? »Und Tante Sylvia?« fragte ich.
    »Warte es ab, Kind. Du wirst die ganze Familie kennenlernen, wie du dir das sicher wünschst. Und wenn sie
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