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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit
Autoren: wood
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wissen sollen, wer ich bin? Typisch Tante Anna, nichts als Verwirrung zu stiften. Komm, setz dich doch. Hier im Haus hat alles seine genaue Ordnung, weißt du. Das Abendessen wird um Punkt acht serviert, ob man ohne Appetit ist oder völlig ausgehungert. Und du kannst nach der langen Reise nur das eine oder das andere sein.«
    »Du scheinst ja bereits gründlich über mich unterrichtet.«
    »Neuigkeiten sprechen sich hier schnell herum. Aber – « er setzte sich wieder, streckte seine langen Beine aus und kreuzte die Füße – »das wirst du bald selbst merken. Geheimnisse gibt es hier nicht.«
    »Bist du Theos Bruder?«
    »Was?« Er lachte ohne Heiterkeit. »Ich bin so wenig sein Bruder wie du meine Schwester bist. Er ist mein Vetter und dein Vetter, und ich bin auch dein Vetter.«
    »Ich verstehe.«
    »Nein, das glaube ich dir nicht. Für eine Pemberton weißt du erstaunlich wenig über die Pembertons! Ich kann mir denken, daß deine Mutter am liebsten überhaupt nicht von uns gesprochen hat. Also, paß auf: Unseren Ursprung haben wir alle bei dem ehrwürdigen Sir John Pemberton, der nunmehr seit zehn Jahren tot ist, und seiner Frau Abigail. John und Abigail hatten drei Söhne: Henry, Richard und Robert. Henry ist Theos Vater. Richard ist mein Vater. Und Robert war dein Vater.«
    »Und Martha?«
    »Martha ist meine Schwester.«
    »Und wie ist Tante Sylvia mit uns allen verwandt?«
    »Sie ist Abigails unverheiratete Schwester. Sie zog vor ungefähr fünfzig oder sechzig Jahren mit ins Haus, als Abigail John heiratete.«
    »Ich verstehe«, sagte ich wieder. »Ich freue mich schon darauf, alle kennenzulernen. Henry und Theo, deinen Vater – «
    Colins Gesicht verdunkelte sich. »Mein Vater ist tot. Meine Mutter ebenfalls. Von den drei Söhnen Johns und Abigails lebt nur noch einer, Henry. Theos Vater. Und von den Frauen dieser Generation leben noch Tante Anna und deine Mutter.«
    »Meine Mutter ist auch tot«, sagte ich leise.
    »Ach?« Er schien nicht überrascht zu sein. »Dann bist du wohl deshalb hierher gekommen? Weil du jetzt ganz allein bist?« Seine Worte wirkten auf mich wie eine Anklage, und in seinem Ton schien mir Spott mitzuschwingen, der mich ärgerte.
    »Ich bin aus persönlichen Gründen hierher gekommen. Unter anderem, weil ich den Wunsch hatte, meine Familie wiederzusehen. Und das Haus, in dem ich geboren bin.«
    Jetzt wandte er mir seine ganze Aufmerksamkeit zu, und ich sah die Ernsthaftigkeit in seinem Blick. Von seiner Lässigkeit war nichts zu spüren, als er fragte: »Und? Siehst du in uns noch etwas, das mit deinen Erinnerungen übereinstimmt?«
    Ich sah ihm in die blaßgrünen Augen und wußte, daß er eigentlich eine andere Frage stellte. In Wirklichkeit wollte er wissen, ob ich mich überhaupt noch an ihn und die übrigen Familienmitglieder erinnerte. Ausweichend antwortete ich: »In zwanzig Jahren verändern sich die Menschen.«
    »Sehr gut gesagt, liebe Cousine. Vor zwanzig Jahren war ich ein Knabe von vierzehn, und du warst gerade fünf. Es bekümmert mich tief, sehen zu müssen, daß die Liebe nicht von Dauer war.«
    »Die Liebe?«
    »Du hast mich damals regelrecht angeschwärmt, Leyla. Du bist mir überallhin gefolgt wie ein treues Hündchen.«
    Ich errötete. Zugleich jedoch machten mich seine Worte traurig, da sie von glücklicheren Zeiten sprachen, die ich erlebt hatte, aber nicht erinnern konnte. Ich fand es beklemmend, ja, erschreckend, daß ich in all den Stunden des Suchens und verzweifelten Bemühens, meine Vergangenheit zurückzuholen, nicht einmal auf ein Bruchstück einer Erinnerung an Colin Pemberton gestoßen war.
    »Hinter dem Haus – ich weiß nicht, ob du dich daran entsinnst – liegt eine große verwilderte Wiese, die Tante Anna hochtrabend den Garten nennt, und jenseits dieses Feldes ist ein Akazienwäldchen. Dort war, als wir alle noch Kinder waren, unser liebster Spielplatz. Mittendrin steht die Ruine eines alten Schlößchens, und das war unser Reich. Erinnerst du dich?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Anfangs spielten nur Theo und ich dort unten. Aber er ist vier Jahre älter als ich, und als er sich für diese Spiele zu alt fühlte, während ich noch Spaß daran hatte, stießen Martha und dein Bruder Thomas zu mir und bald auch du, so klein du warst. Du hast da unten immer das Häschen gespielt und bist herumgesprungen wie ein kleiner Kobold. Immer vergnügt und ausgelassen. Bist du immer noch so, Leyla?« Aber ich hörte seine letzten Worte nur mit halbem
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