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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit
Autoren: wood
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Die Nachricht von deinem Kommen hat sie sehr bewegt.« Er sprach mit einer gewissen Ehrfurcht von unserer Großmutter. »Ehrlich gesagt, mochte ich viel dringender Tante Sylvia sprechen.«
    »Was?« Er war verblüfft.
    »Ja, sie hat doch – « Eigentlich wollte ich von dem Brief erzählen, aber dann unterließ ich es. »Ich meine, an sie erinnere ich mich am deutlichsten.« Was nicht ganz unwahr war, da ich ja vor der Lektüre ihres Briefes nicht ein einziges Mitglied der Familie Pemberton mit Namen gekannt hatte. »Wie merkwürdig, daß du ausgerechnet Tante Sylvia sehen möchtest.«
    »Wieso?« Ehe er mir darauf eine Antwort geben konnte, kam eine dritte Person in die Bibliothek, eine Frau, die auf der Schwelle stehenblieb, als warte sie auf eine Aufforderung, einzutreten. Ich sah, wie Theos Blick zur Tür schweifte, und drehte den Kopf. In diesem Augenblick sprang mir blitzartig ein Bild vor Augen. Ich sah das Gesicht eines Mädchens, eines sehr hübschen jungen Mädchens mit roten Schleifen im Haar und einem weißen Kleid. Langsam, wie benommen, stand ich auf und hätte beinahe meinen Sherry verschüttet. »Martha!« flüsterte ich.
    Aber dies war kein junges Mädchen in einem weißen Kleid. Die Frau, die mir mit ausgestreckten Händen entgegenkam, war älter als ich, mindestens dreißig, und sie trug ein elegantes Abendkleid aus altrosa Brokat mit kostbarer Stickerei am Dekollete. Ich bewunderte ihre modische Frisur mit den duftigen Ringellöckchen, die ihr über die Ohren fielen, als sie auf mich zuging. In der einen Hand trug sie einen ziemlich großen Pompadour mit einer Stickerei von Veilchen auf perlweißem Grund, aus dem mehrere Stricknadeln herausschauten.
    »Leyla, willkommen zu Hause«, sagte sie, und ein wunderbarer Duft wehte mir entgegen, als sie meine Hände nahm.
    Sie war von meinen Verwandten die erste, deren Ton mir aufrichtig schien.
    Das Bild des strahlenden jungen Mädchens verblich. Statt dessen stand eine hübsche Frau vor mir, und ich war ihr sogleich für zwei Dinge dankbar: daß sie mich mit echter Herzlichkeit begrüßt hatte und mir den Anstoß zu einer ersten flüchtigen Erinnerung an meine Kindheit in Pemberton Hurst gegeben hatte.
    »Ich habe gehört, daß deine Mutter gestorben ist. Das tut mir leid. Es war wohl erst vor kurzem?«
    »Vor zwei Monaten.«
    »Ich habe sie in so lieber Erinnerung. Es ist unglaublich, wie ähnlich du ihr siehst. Aber du hast auch mit deinem Vater Ähnlichkeit. Onkel Robert war ein blendend aussehender Mann. Du hast von beiden etwas, von Onkel Robert und von Tante Jenny.«
    Wenn ich mich nicht eisern beherrscht hätte, hätte ich in diesem Moment zu weinen angefangen. Das erstemal hörte ich ein Wort über meinen Vater.
    »Es gibt so viel zu erzählen, Leyla«, fuhr Martha fort. »Alte Erinnerungen – «
    »Nicht so hastig, Martha«, unterbrach Theo. »Manchmal läßt man Erinnerungen lieber ruhen.«
    Flüchtig umwölkte sich ihr Gesicht, dann lächelte sie wieder frei und offen.
    »Natürlich. Leyla wird kaum daran interessiert sein, in der Vergangenheit zu graben. Was vorbei ist, ist vorbei. Unterhalten wir uns lieber über das Heute. Über die neueste Mode zum Beispiel. Wußtest du, daß die Krinoline im nächsten Jahr vorne flach werden soll? Wie findest du das, Leyla?«
    Der abrupte Themawechsel war so irritierend, daß ich Martha nur sprachlos anschauen konnte. Ich war nicht nach zwanzigjähriger Abwesenheit in dieses Haus gekommen, um mich über die neueste Mode zu unterhalten.
    »Oh, ich kann dich verstehen«, fuhr Martha fort, als ich beharrlich schwieg. »Man kann sich das zunächst gar nicht vorstellen.« Theo war daran schuld, daß Martha ihr Verhalten so plötzlich geändert hatte, denn er ließ sie keinen Moment aus den Augen, achtete auf jedes ihrer Worte. Martha, dachte ich, würde mich wohl genauso enttäuschen wie die anderen. Ich konnte nur noch auf Onkel Henry, meine Großmutter und Tante Sylvia hoffen. Wenn Henry Pemberton sich wie seine Frau und sein Sohn verhielt, so hatte ich auch von ihm nichts zu erwarten. Und von meiner achtzigjährigen, vielleicht vergreisten Großmutter durfte ich nicht zuviel erhoffen. Im Grunde also blieb mir nur Tante Sylvia. Sie hatte mir den Brief geschrieben, sie wenigstens mußte mich doch mit offenen Armen aufnehmen!
    »Es ist gleich acht«, bemerkte Theodore. »Darf ich die beiden Damen ins Speisezimmer begleiten?«
    Colin und Anna waren schon da. In gedämpfter Unterhaltung standen sie am offenen
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