Lockruf der Vergangenheit
Kamin, dessen helles Feuer das Porzellan und das Silber auf dem gedeckten Tisch vergoldete. Die Pembertons wußten Behaglichkeit und Luxus zu vereinen. Das Speisezimmer war ein prachtvoller Raum. Auf dem wahrhaft königlich gedeckten Tisch mit der weißen Damastdecke standen Blumenarrangements und Schalen mit Früchten. Neben Anna und Martha in ihren eleganten Abendroben kam ich mir wieder vor wie eine arme Kirchenmaus.
Der Stuhl am Kopfende der Tafel blieb leer, obwohl auch dort ein Gedeck aufgelegt war. Die Plätze links und rechts von ihm wurden von Onkel Henry und Theo eingenommen; es schienen ihre angestammten Plätze zu sein. Anna setzte sich neben ihren Mann, Martha gegenüber. Dann folgte ich an Annas Seite und mir gegenüber, neben Martha, Vetter Colin. Auch der Stuhl am anderen Ende der Tafel, der zwischen Colin und mir, blieb leer. Dort lag allerdings auch kein Gedeck. Diese beiden Ehrenplätze, vermutete ich, waren den beiden Alten der Sippe vorbehalten, Großmutter Abigail und Großtante Sylvia. Voll ungeduldiger Spannung erwartete ich ihr Erscheinen.
Ehe ich mich setzte, kam Henry um den Tisch herum und schloß mich fest in die Arme. »Bunny«, murmelte er. »Es ist so schön, daß du wieder hier bist. Lauf das nächstemal nicht wieder so überstürzt davon, ja?«
Ich hätte mir gern sein Gesicht genauer betrachtet, aber er gab mir keine Gelegenheit dazu, sondern kehrte sogleich an seinen Platz zurück. Ich wußte, daß Henry große Ähnlichkeit mit meinem Vater haben mußte, und ich wollte es ganz genau studieren. Doch dieser Mann weckte genau wie die anderen, außer Martha, keine Erinnerungen in mir.
Über Blumen und flackernde Kerzen hinweg lächelten wir alle einander freundlich zu, doch ich spürte, während wir den ersten Schluck Wein tranken, daß diese Freundlichkeit nicht stimmte. Ich wünschte mir so sehr eine Familie, daß ich mir dieses Verhalten kurzerhand damit erklärte, daß ich schließlich noch immer eine Fremde für diese Menschen sei, daß sie Zeit brauchten, um mich in ihrer Mitte aufzunehmen. Die quälende Ahnung, daß das Unbehagen meiner Verwandten einen anderen Grund haben könnte – und ich wußte nicht, welchen – , unterdrückte ich einfach.
Zwei Mädchen begannen, die Speisen aufzutragen, eine feine Bouillon zuerst, zu der Brot und Butter gereicht wurden, dann Platten mit Fleischpastete und Gemüse, das im eigenen Garten gezogen war. Wir aßen schweigend; ich hatte den Eindruck, daß das in diesem Haus so üblich war. Ab und zu fing ich einen Blick von Colin auf – wieder war es dieser forschende Blick –, und ich spürte, daß er wegen meiner ersten Worte zu ihm immer noch verärgert war. Gelegentlich lächelte Martha mir über den Tisch hinweg zu, aber auch sie verbarg ihre wahren Gefühle. Nur schien Martha mir gegenüber nicht dieses Unbehagen zu empfinden, wie die anderen; in den Augen meiner stillen Cousine spiegelte sich eher Traurigkeit.
Beim Dessert lockerte sich die Stimmung ein wenig, und meine Verwandten erwachten aus ihrer Schweigsamkeit.
Henry war es, der das Schweigen brach. »Die Lage in Amerika«, sagte er, »scheint ja immer schwieriger zu werden. Ich bin gespannt, wie lange es noch dauert, ehe es zum Bürgerkrieg kommt.«
»Das kommt nur, weil sie an der Sklaverei festhalten«, versetzte Theo. »Wir haben sie durch Parlamentsbeschluß schon 1833 in unseren Kolonien abgeschafft. Ich finde es barbarisch, daß sie unserem Beispiel nicht folgen.«
»Das mag richtig sein«, meinte Henry, »aber mir geht es weniger um die Sklaven als um die Baumwolle. Wenn die Südstaatler einen Krieg anfangen, sind unsere Baumwollieferungen gefährdet.« Ich hörte bei dieser Erörterung mit Interesse zu, da ich mich an Theos Bemerkung über eine Baumwollspinnerei in Manchester erinnerte. Hatten die Pembertons ihr Vermögen mit Baumwolle verdient? Ich hätte es wissen müssen; es war sicher kein Geheimnis, aber ich hatte keine Erinnerung daran.
»Es kommt ganz darauf an, ob den Südstaaten Menschlichkeit wichtiger ist als Profit.«
»Und wer soll die Baumwolle pflücken, wenn die Sklaven befreit werden? Hier geht es nicht um Moral und Menschlichkeit, Theo. Hier geht es um wirtschaftliche Interessen. Die gesamte Industrie der Südstaaten steht und fällt mit der Sklaverei. Wenn sie die aufgeben, erwartet sie wirtschaftlicher Niedergang. Die Baumwollpreise werden in die Höhe schnellen. Jeder Geschäftsmann weiß, daß man keine Gewinne machen kann, wenn man auf
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