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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit
Autoren: wood
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beinahe anklagend.
    »Ja. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich jetzt meiner Familie melden und mich eintreten lassen würden.«
    Augenblicklich wich die Frau zurück, um mir Platz zu machen. Ich eilte ins Haus, ehe der Wind mir den Hut vom Kopf reißen konnte, und glättete geschwind meinen Umhang, um präsentabel vor die Familie treten zu können. Als ich aufblickte, sah ich, daß die Frau immer noch dastand und mich mit offenem Mund ungläubig anstarrte. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte ich leicht beunruhigt. »Leyla Pemberton?« flüsterte die Frau statt einer Antwort. Was hatte ich denn so Erstaunliches gesagt? Doch nur meinen Namen. Ich fragte mich, ob auch diese Frau zu der fernen Vergangenheit gehörte, die mir verschlossen war. Hatte ich diese rundliche Person schon in meiner Kindheit gekannt?
    »Bitte melden Sie mich meiner Tante Sylvia. Ich denke, sie erwartet mich.«
    »Sie sagen, Miss Sylvia erwartet Sie?« fragte sie noch immer irritiert. Sie sprach mit einem leichten deutschen Akzent. »Aber sicher, ich werde erwartet.«
    Das Geräusch schneller Schritte durchbrach die Stille. Mit den Worten, »wer war denn an der Tür?« kam eine zweite Frau auf mich zu; offensichtlich war sie keine Hausangestellte. Als sie mich sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. »Jenny!« flüsterte sie.
    »Nein, ich bin nicht Jenny. Ich bin ihre Tochter Leyla.« Der Blick der zweiten Frau huschte zur Haushälterin, und mir war, als flögen unausgesprochene Worte zwischen ihnen hin und her. »Leyla?« wiederholte die Frau dann. »Du bist Leyla?« Ich hatte selten jemanden so überrascht gesehen. Dabei hatte Tante Sylvia doch gewiß im Namen der ganzen Familie geschrieben, und man mußte schon seit einiger Zeit meinen Besuch erwartet haben. Aber nein, der Brief war ja an meine Mutter gerichtet gewesen, und daher war es meine Mutter, die man hier erwartet hatte. »Ja, ich bin Leyla, Jennys Tochter. Ihr habt gewiß nicht damit gerechnet, daß ich an ihrer Stelle kommen würde. Verzeiht mir, das war sehr gedankenlos von mir – «
    »An ihrer Stelle?« Die zweite Frau zwinkerte ungläubig. »Mein liebes Kind, wir haben weder dich noch deine Mutter erwartet. Das ist wirklich ein Schock«, sagte sie und griff sich mit theatralischer Geste ans Herz. »Das tut mir leid. Wirklich.«
    »Wir dachten, wir würden dich nie wiedersehen! Leyla, Leyla! Mein Gott, ist das eine Überraschung.«
    Etwas höflicher und wohlerzogener als die Haushälterin, die mich mit ihren blauen Augen immer noch wie ein Gespenst anstarrte, kam die Frau auf mich zu und bot mir die Hand. Ein dünnes Lächeln spielte um ihre Lippen, und ihre Stimme war warm. Doch die Augen blieben hart.
    »Bitte verzeih’ meine Unhöflichkeit.«
    »Bist du Tante Sylvia?« Wieder huschte ihr Blick zur Haushälterin.
    »Nein, Kind. Ich bin nicht deine Tante Sylvia. Gott, was für eine Überraschung. Nach all diesen Jahren. Was ist aus der kleinen Leyla geworden.«
    Ich hatte mich also getäuscht. Sie war nicht überrascht, mich anstatt meiner Mutter zu sehen; sie wäre genauso überrascht gewesen, wenn meine Mutter selbst gekommen wäre. Es war mir ein Rätsel, warum Tante Sylvia den anderen nichts von ihrem Brief gesagt hatte. Wir umarmten einander höflich, als spielten wir eine Szene in einem Theaterstück, dann trat ich einen Schritt zurück, um diese unbekannte Verwandte zu mustern, die in mir ein Gefühl diffusen Unbehagens auslöste.
    Sie hatte ein reizloses, aber durchaus sympathisches Gesicht mit leicht vorstehenden Augen und trug ein rehbraunes Samtkleid nach der neuesten Mode mit Volants und eng zulaufender Taille. Das Haar war in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden; Korkenzieherlöckchen, die über die Ohren herabfielen, nahmen der Frisur ein wenig die Strenge. Das Grau in ihrem Haar, die Falten um die Augen und die schlaffen Wangen verrieten mir, daß sie nicht mehr jung war; ich schätzte sie auf Mitte fünfzig. Da ich niemanden von der Familie Pemberton kannte, wußte ich nicht, mit wem ich es zu tun hatte.
    Als hätte sie meine Gedanken gelesen, bot sie mir nochmals die Hand und sagte: »Ich bin Anna Pemberton, deine Tante und die Schwägerin deiner Mutter. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an mich…?«
    »Nein. Müßte ich das denn?«
    Ihr kleines Auflachen klang gezwungen, aber der Ton war angenehm. Die füllige Haushälterin in ihrer Schürze starrte mich immer noch fassungslos an. Es sah aus, als würde sie sich ohne
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