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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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aus. Und vielleicht, weiß der Teufel. Trinken wir?«
    »Ich trinke nicht.«
    »Wie schade. Für langjährige Dienste. Tausendvierhundert. Aber ich brauche etwas anderes ...«
    »Sei still, oder ich hänge mich auf«, schrie Katja, seine Frau.
    »Sie ist herzkrank«, erklärte Fleming.
    »Nimm dich zusammen. Schreib. Du kannst dich ausdrücken. Deinen Briefen nach. Und eine Erzählung, ein Roman – das ist doch ein vertraulicher Brief.«
    »Nein, ich bin kein Schriftsteller. Ich setze mich ein ...«
    Und, mein Ohr mit Spucke bespritzend, flüsterte er etwas vollkommen Ungereimtes, als hätte es gar keine Kolyma gegeben, als hätte Fleming im Jahr siebenunddreißig selbst siebzehn Tage auf dem »Fließband« der Untersuchung gestanden und seine Psyche einen merklichen Schaden genommen.
    »Heute werden viele Memoiren veröffentlicht. Erinnerungen. Zum Beispiel ›Im Reiche der Ausgestoßenen‹ von Jakubowitsch . Sollen sie sie herausbringen.«
    »Hast du deine Erinnerungen aufgeschrieben?«
    »Nein. Ich will ein Buch zur Veröffentlichung empfehlen – weißt du welches. Ich bin in den Lenisdat gegangen, dort sagt man, nicht deine Sache ...«
    »Was denn für ein Buch?«
    »Die Aufzeichnungen von Sanson , dem Pariser Henker. Das wären Memoiren!«
    »Des Pariser Henkers?«
    »Ja. Ich erinnere mich – Sanson hatte Charlotte Corday geköpft, er schlug sie auf die Wangen, und die Wangen am abgeschlagenen Kopf wurden rot. Und dann noch: damals gab es ›Opferbälle‹ . Gibt es bei uns ›Opferbälle‹?«
    »Der ›Opferball‹ – das gehört in den Thermidor und nicht einfach in die Postterror-Zeit. Und Sansons Aufzeichnungen sind Fälschungen.«
    »Als ob es darum ginge, Fälschung oder nicht. Das Buch hat es gegeben. Trinken wir Rum. Ich habe viele Getränke ausprobiert, und am besten ist Rum. Rum. Jamaika-Rum.«
    Seine Frau rief zum Essen – Berge irgendwelcher fetten Speisen, die von dem gefräßigen Fleming fast augenblicklich verschlungen wurden. Die unbezähmbare Freßgier blieb Fleming für immer erhalten, als psychisches Trauma, sie blieb ihm, wie Tausenden anderen ehemaligen Häftlingen auch, fürs ganze Leben.
    Das Gespräch brach irgendwie ab, und in der beginnenden städtischen Dämmerung hörte ich neben mir das bekannte Schmatzen von der Kolyma.
    Ich dachte an die Lebenskraft, die sich in einem gesunden Magen und Darm verbirgt, in der Fähigkeit zu verschlingen – das auch war an der Kolyma Flemings schützender Lebensreflex gewesen. Skrupellosigkeit und Gier. Die Skrupellosigkeit der Seele, die er am Tisch des Untersuchungsführers erworben hatte, war auch eine Vorbereitung, ein eigenartiger Dämpfer für diesen Verfall an der Kolyma, an der sich für Fleming keinerlei Abgrund auftat – er hatte alles schon vorher gewußt, und das rettete ihn – milderte seine moralischen Qualen, wenn es diese Qualen gab! Fleming erfuhr keinerlei neue seelische Traumata – er hatte Schlimmeres gesehen, er blickte gleichgültig auf den Tod aller rings um ihn und war bereit, nur um sein eigenes Leben zu kämpfen. Das Leben war gerettet, doch in Flemings Seele war eine drückende Spur geblieben, die er verwischen, durch eine Beichte läutern mußte. Durch eine Beichte – einen Lapsus linguae, eine halbe Andeutung, ein laut geführtes Selbstgespräch, ohne Bedauern, ohne Verurteilung. »Ich hatte einfach Pech«. Und dennoch war Flemings Erzählung eine Beichte.
    ____
    »Schau mal hier!?«
    »Dein Parteibuch?«
    »M-hm. Ganz neu. Aber es war alles nicht einfach, nicht einfach. Vor einem halben Jahr hat das Gebietskomitee meine Wiederaufnahme in die Partei erörtert. Sie sitzen, lesen die Unterlagen. Der Gebietssekretär, dieser Tschuwasche, sagt so tot und grob: ›Alles klar. Schreiben Sie den Beschluß: Wiederaufnahme nach unterbrochener Mitgliedschaft.‹
    Es überlief mich heiß: ›nach unterbrochener Mitgliedschaft‹. Ich dachte, wenn ich jetzt nicht Einspruch erhebe gegen den Beschluß, wird man mir in Zukunft immer sagen – und warum haben Sie geschwiegen, als Ihre Sache erörtert wurde? Dafür werden Sie doch persönlich zur Verhandlung geladen, damit Sie sich rechtzeitig äußern, etwas sagen können ...‹ Ich hebe die Hand.
    ›Was hast du?‹ So tot und grob.
    Ich sage: ›Ich bin nicht einverstanden mit dem Beschluß. Denn man wird von mir überall, bei jeder Arbeit, eine Erklärung für diese Unterbrechung verlangen.‹
    ›Was hast du es eilig‹, sagt der Erste Gebietssekretär. ›Du bist so
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