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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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und fernen Freunden, seinen früheren Kollegen. Er sollte bei der Spanierin etwas herausbekommen, etwas erhärten. Aber die Kranke wartet nicht. Die Spanierin hatte sich erholt und war in die Frauenmine transportiert worden. Fleming unterbricht die Arbeit am Krankenhaus und fährt überraschend zu einem Treffen mit der Spanierin, zwei Tage treibt er sich herum auf der Tausendwerst-Autotrasse, auf der die Fahrzeuge strömen und auf jedem Kilometer Sicherungseinheiten der Operativniki stehen. Fleming hat Glück, er kommt nach dem Treffen vollkommen wohlbehalten zurück. Sein Handeln hätte romantisch wirken können, im Namen einer Lager-Liebe vollbracht. Leider reist Fleming nicht der Liebe wegen, unternimmt er keine heroischen Schritte um der Liebe willen. Hier wirkt eine viel stärkere Kraft als die Liebe, eine höhere Leidenschaft, und diese Kraft wird Fleming unversehrt an allen Sicherungseinheiten des Lagers vorbeiführen.
    Fleming sprach des öfteren vom Jahr fünfunddreißig – der plötzlichen Häufung von Morden. Dem Tod der Familie von Sawinkow Der Sohn wurde erschossen, und seine Familie, Frau, zwei Kinder und die Mutter der Frau, wollten nicht aus Leningrad fort. Alle hinterließen Briefe – Abschiedsbriefe aneinander. Alle brachten sich um, und Flemings Gedächtnis hatte die Zeilen eines Kinderbriefchens bewahrt: »Liebe Oma, bald werden wir sterben.«
    ____
    Neunzehnhundertfünfzig endete Flemings Haft wegen der »NKWD-Sache«, aber nach Leningrad kehrte er nicht zurück. Er erhielt keine Erlaubnis. Seine Frau, die viele Jahre den »Wohnraum« gehalten hatte, fuhr aus Leningrad nach Magadan, kam aber nirgends unter und reiste wieder ab. Vor dem zwanzigsten Parteitag kehrte Fleming nach Leningrad zurück, in dasselbe Zimmer, in dem er vor der Katastrophe gewohnt hatte ...
    Fieberhafter Einsatz. Tausendvierhundert Rente für langjährige Dienste. »In den Beruf« zurückzukehren gelang dem Fachmann für Pharmakologie, jetzt noch mit Feldscherausbildung, nicht. Wie sich zeigte, hatte man alle alten Mitarbeiter, alle Veteranen dieser Dinge, alle am Leben gebliebenen Ästheten in Pension geschickt. Bis auf den letzten Boten.
    Fleming trat eine Stelle an – als Büchersortierer im Antiquariat auf dem Litejnyj Prospekt. Fleming hielt sich für Fleisch vom Fleische der russischen Intelligenz, auch wenn er mit der Intelligenz in so eigenartiger Verwandtschaft und Verbindung stand. Fleming wollte sein Schicksal nicht völlig trennen vom Schicksal der russischen Intelligenz, vielleicht aus dem Gefühl, daß nur die Verbindung zum Buch ihm die Qualifikation erhält, falls er es schafft, noch bessere Zeiten zu erleben.
    Zu Konstantin Leontjews Zeiten wäre der Hauptmann der Pioniertruppen ins Kloster gegangen. Aber auch die Welt der Bücher, eine gefährliche und erhabene Welt, der Dienst am Buch hat eine fanatische Färbung – wie jede Buchliebhaberei enthält er jedoch ein moralisches Moment der Reinigung. Der ehemalige Verehrer Gumiljows und Kenner der Kommentare zu Gumiljows Gedichten und seinem Schicksal wird ja nicht als Wachmann gehen. Als Feldscher – in seinem neuen Beruf? Nein, lieber Antiquar.
    »Ich setze mich ein, setze mich die ganze Zeit ein. Etwas Rum?«
    »Ich trinke nicht.«
    »Ach, wie dumm, wie schade, daß du nicht trinkst. Katja, er trinkt nicht! Verstehst du? Ich setze mich ein. Ich werde noch an meine Arbeit zurückkehren.«
    »Wenn du an deine Arbeit zurückkehrst«, sagte mit blauen Lippen Katja, seine Frau, »dann hänge ich mich auf, dann gehe ich gleich morgen ins Wasser.«
    »Ich mache Witze. Ich mache die ganze Zeit Witze. Ich setze mich ein. Ich setze mich die ganze Zeit ein. Mache Eingaben, ziehe vor Gericht, fahre nach Moskau. Man hat mich ja wieder in die Partei aufgenommen. Aber wie?«
    Fleming zog einen Haufen zerdrückter Blätter aus dem Jacket.
    »Lies. Das ist die Aussage von Drabkina . Sie war bei mir an der Igarka.
    Ich überflog die umfangreiche Aussage der Autorin von »Schwarzer Zwieback«.
    »Als Chef des Lagerpunkts behandelte er die Gefangenen gut, wofür er auch bald verhaftet und verurteilt wurde ...«
    Ich blätterte in den schmutzigen, klebrigen, von den unachtsamen Fingern der Leitung viele Male durchgeblätterten Erklärungen Drabkinas ...
    Und Fleming, zu meinem Ohr gebeugt und nach Rum riechend, erklärte mir heiser, er sei ja im Lager »Mensch« gewesen – hier bestätigt es sogar Drabkina.
    »Brauchst du das alles?«
    »Ja. Ich fülle mein Leben damit

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