Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
nach.
Die Physiker konnten die »Sonderkollegien«, konnten jede » Trojka « mit Material versorgen, aber für öffentliche Prozesse war die Schule der physischen Einwirkung nicht geeignet. Die Schule der physischen Handlung (so heißt es wohl bei Stanislawskij ) hätte keine öffentlichen blutigen Vorstellungen geben können, konnte die »Schauprozesse« nicht vorbereiten, die die gesamte Menschheit in Furcht versetzten. Es waren die Chemiker, die die Vorbereitung solcher Spektakel leisten konnten.
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Zwanzig Jahre nach jenem Gespräch füge ich Zeilen aus einem Zeitungsartikel in die Erzählung ein:
»Durch den Einsatz gewisser psychopharmakologischer Agenzien kann man beim Menschen beispielsweise die Angst auf eine bestimmte Zeit vollständig abstellen. Dabei, und das ist besonders wichtig, ist die Klarheit seines Bewußtseins nicht im geringsten beeinträchtigt ...
Später stieß man auf noch überraschendere Fakten. Menschen, bei denen die ›Beta‹-Phasen des Schlafs lange unterdrückt wurden, im gegebenen Fall bis zu siebzehn Nächte am Stück, zeigten diverse Störungen des psychischen Befindens und Verhaltens.«
Was ist das? Auszüge aus den Aussagen eines ehemaligen Chefs einer NKWD-Verwaltung im Gerichtsprozeß gegen die Richter?.. Der Abschiedsbrief Wyschinskijs oder Rjumins ? Nein, es sind Absätze aus einem wissenschaftlichen Artikel eines ordentlichen Mitglieds der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Aber all das – und hundertmal mehr! – ist doch in den dreißiger Jahren bei der Vorbereitung der »Schauprozesse« schon bekannt, erprobt und angewandt.
Die Pharmakologie war in diesen Jahren nicht das einzige Waffenarsenal der Untersuchung. Fleming nannte einen Namen, den ich gut kannte.
Ornaldo!
Und ob: Ornaldo war ein bekannter Hypnotiseur, der in den zwanziger Jahren viel in Moskauer Zirkussen auftrat, und nicht nur in Moskauer. Die Massenhypnose ist Ornaldos Spezialität. Es gibt Photographien von seinen berühmten Gastspielen. Bilder in Büchern über Hypnose. »Ornaldo« ist natürlich ein Pseudonym. Sein wirklicher Name ist N. A. Smirnow. Das ist ein Moskauer Arzt. Plakate rund um die Anschlagsäule – damals wurden Plakate auf runden Sockeln geklebt – Photographien. Swischtschow-Paolo hatte damals sein Photoatelier in der Stoleschnikow-Gasse. Im Schaufenster hing eine riesige Photographie von menschlichen Augen und die Unterschrift »Die Augen Ornaldos«. Ich erinnere mich bis heute an diese Augen, erinnere mich an meine Bestürzung, wenn ich Ornaldos Auftritte im Zirkus hörte oder sah. Der Hypnotiseur trat bis Ende der zwanziger Jahre auf. Es gibt Photos von Ornaldos Auftritten in Baku 1929. Später hörten die Auftritte auf.
»Ab Anfang der dreißiger Jahre war Ornaldo in geheimem Einsatz beim NKWD.«
Der Schauer eines enträtselten Geheimnisses lief mir über den Rücken.
Ohne jeden Anlaß sprach Fleming oft lobend von Leningrad. Genauer, er bekannte, daß er kein angestammter Leningrader sei. Tatsächlich war Fleming von den Ästheten aus dem NKWD der zwanziger Jahre aus der Provinz geholt worden, als würdige Ablösung der Ästheten. Ihm wurde Geschmack anerzogen – breiter als die gewöhnliche Schulbildung. Nicht nur Turgenjew und Nekrassow, sondern auch Balmont und Sologub , nicht nur Puschkin, sondern auch Gumiljow .
» ›Und ihr, Filibuster und Hunde des Königs, die ihr euren Goldschatz im Hafen bewahrt.‹ Bringe ich nichts durcheinander?«
»Nein, alles richtig!«
»Weiter weiß ich nicht mehr. Bin ich – ein Hund des Königs? Ein Hund der Regierung?«
Und mit einem Lächeln, das ihm selbst und seiner Vergangenheit galt, erzählte er so andächtig, wie ein Puschkin-Spezialist davon erzählt, daß er die Gänsefeder in der Hand gehalten hat, mit der »Poltawa« geschrieben wurde – er hatte die Akten des »Gumiljow-Verfahrens« berührt und nannte es die Verschwörung der Lyzeumsschüler . Man hätte denken können, er habe den Stein der Kaaba berührt; solche Glückseligkeit, solche Läuterung war in jedem seiner Gesichtszüge, daß ich unwillkürlich dachte – auch das ist ein Weg der Heranführung an die Poesie. Der erstaunliche, höchst seltene Pfad der Erkenntnis literarischer Werte im Kabinett des Untersuchungsführers. Die moralischen Werte der Poesie werden auf solchem Weg natürlich nicht erkannt.
»In Büchern lese ich vor allem die Anmerkungen, die Kommentare. Ich bin ein Mensch der Anmerkungen, der Kommentare.«
»Und den
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