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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
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Auserwähltsein in seinem Umfeld hinterlassen könnte. Dennoch stimmt er zu, und als der Tag gekommen ist, findet er sich im Warteraum neben dem Büro des Direktors mit einem Dutzend gut rasierter, saubergeputzter Häftlinge wieder, die ganz offensichtlich ausgesucht wurden, um bei der Delegation einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sie warten wortlos und wagen nicht, einander anzusehen, so peinlich ist es ihnen, an diesem Ort zu sein. Endlich kommen die Delegierten, und an ihrem hochroten Teint erkennt man, dass sie gerade ein reichlich begossenes Mittagessen hinter sich haben. Sie verbringen eine halbe Stunde damit, die Häftlinge zu fragen, wie es ihnen ginge und ob sie gut behandelt würden – was Eduard in seinem tiefsten Inneren zum Grinsen bringt: Sind sie tatsächlich so idiotisch zu glauben, dass ein Zek in Anwesenheit des Direktors und im Wissen darum, was ihn erwartet, sobald die Besucher ihm den Rücken zugekehrt haben werden, den Mut hätte zu antworten, es ginge ihm nicht gut? Er würde schlecht behandelt? Aus dem Augenwinkel beobachtet Eduard Pristawkin, der ihn seinerseits aus dem Augenwinkel beobachtet. Seit dem letzten Mal, da sie sich gesehen haben, sind Pristawkins Haare dünner geworden, er hat angesetzt und Couperose bekommen: Das Leben eines Abenteurers hält besser in Schuss als das eines Apparatschiks, denkt der schlanke Eduard. Schließlich sagt Pristawkin zum Direktor – doch so laut, dass alle es hören müssen –, er würde sich gern unter vier Augen mit dem Häftling Limonow unterhalten.
    »Sawenko«, korrigiert der Gemeinte.
    »Aber natürlich«, beeilt sich der Direktor. »Gehen Sie in mein Büro.«
    Die beiden Männer ziehen sich unter den verdutzten Blicken der anderen zurück. Einen Moment lang sind sie unschlüssig: Wohin sollen sie sich setzen? Wenn es nach Eduard ginge, würde er stehen bleiben und der Besucher nähme im Chefsessel Platz – das entspricht der Realität ihrer Lage, und würde man ihm anbieten, die seine mit der des anderen zu tauschen, würde er ablehnen –, aber Pristawkin nimmt ihn beim Arm, und sie setzen sich beide wie alte Freunde auf eine Sitzbank vor einen niedrigen Tisch.
    »Zigarre?«, bietet Pristawkin an. Eduard antwortet, er rauche nicht. »Gut«, nimmt Pristawkin mit kognakgeschwängertem Atem den Faden wieder auf, »der Spaß hier hat lange genug gedauert. Sie sind ein großer russischer Schriftsteller, Eduard Wenjaminowitsch. Ihr Buch der Gewässer ist ein Meisterwerk. Doch, doch, lassen Sie mich das sagen: ein Meisterwerk. Im Übrigen haben das auch die Kenner gleich erkannt. Haben Sie gesehen, dass Sie auf der Shortlist für den Booker Prize stehen? Der PEN -Club sorgt sich um Ihr Schicksal, und die Organe würden es natürlich niemals offiziell zugeben, aber diese Anklage wegen Terrorismus – die ist doch nicht haltbar. Die Zeiten ändern sich, man darf schließlich nicht das Ziel verfehlen. Die wirkliche Kriminalität heutzutage ist doch die Wirtschaftskriminalität: Jemand wie Michail Chodorkowski, der Milliarden von Dollar veruntreut, ja, das ist ein Krimineller, und einer von der schlimmsten Sorte, und man täte tausendmal recht daran, ihn ins Gefängnis zu stecken. Aber einen Künstler wie Sie, Eduard Wenjaminowitsch, einen Meister der russischen Prosa … Ihr Platz ist doch nicht unter Mördern.«
    »Manche sind sehr anständige Leute«, erwidert Eduard.
    »Ach? Sie finden, dass Mörder anständige Leute sind?« Pristawkin lacht gutmütig auf. »Das ist eine Schriftstellermeinung. Dostojewski sagte dasselbe … Jedenfalls war man zu hart zu Ihnen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Eduard Wenjaminowitsch, wir werden das in Ordnung bringen.«
    »Ich habe nichts dagegen«, sagt Eduard vorsichtig.
    »Natürlich! Wer sollte das auch haben! Nun, was die Dinge erleichtern würde, wäre, wenn Sie sich schuldig bekennen würden. Schauen Sie doch nicht so drein, ich weiß, dass Sie es bei Ihrem Prozess abgelehnt haben, aber verstehen Sie mich recht: Es wäre eine reine Formsache, nur um unsere Freunde vom FSB nicht das Gesicht verlieren zu lassen, Sie wissen doch, wie empfindlich die sind. Wahrscheinlich wird es gar niemand erfahren. Es wird in Ihrer Akte stehen und fertig. Bekennen Sie Ihre Schuld, und in einem Monat, höchstens in zwei, sind Sie draußen.«
    Eduard schaut ihn an und versucht an seinem Gesicht abzulesen, ob das Ganze eine Falle ist. Dann schüttelt er den Kopf: Wichtiger noch als seine Freiheit ist ihm sein Ruf eines
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