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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
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schenkt, oder, das kommt am häufigsten vor, er schreibt. In seinem Kopf natürlich, wie es fünfzig Jahre zuvor auch Solschenizyn tat: Er komponiert Satz für Satz, Absatz für Absatz, Kapitel für Kapitel, prägt sich alles Abschnitt für Abschnitt ein und verbessert auf diese Weise seine ohnehin schon beeindruckende Gedächtnisleistung.
    Theoretisch verbietet die Lagerordnung das Schreiben nicht, aber einerseits bleibt ihm wenig Zeit, höchstens eine Stunde am Abend, um die Arbeit des Tages festzuhalten, andererseits fordert es die Neugier der Aufseher heraus, und diese Neugier ist keine respektvolle wie in seinen vorigen Strafanstalten. Einmal verlangt einer dieser bockigen, misstrauischen Typen, sein Heft zu sehen, er blättert es bedrohlich schweigend durch und fragt ihn schließlich: »Sprichst du darin von mir?« Eduard wird es heiß, und er macht sich von diesem Tag an nur noch diplomatisch entschärfte Notizen. Er baut darauf, sie aus der Erinnerung zu ergänzen, sobald er draußen ist.
    Er tut gut daran. Kurz vor seiner Entlassung verschwinden seine Hefte mysteriöserweise, und er wird gezwungen sein, ohne irgendwelche Aufzeichnungen das in Engels erdachte Buch im Ganzen noch einmal zu schreiben. Doch das macht es nur noch besser, urteilt er.
    5
    Wie soll ich erzählen, was ich jetzt zu erzählen habe? Es ist nicht zu erzählen. Die Worte entziehen sich. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, hat man nicht die geringste Idee davon, und ich habe es nicht erlebt. Außer Eduard kenne ich nur eine Person, die dasselbe erfahren hat. Es ist mein bester Freund, Hervé Clerc. Er hat in einem Buch darüber gesprochen, das zugleich ein Essay über den Buddhismus ist und den Titel trägt: Die Dinge, wie sie sind . Ich würde mich lieber an seine Worte als an die von Eduard halten, aber es ist Eduards Erfahrung, über die ich hier zu berichten habe. Versuchen wir es also.
    Er erinnert sich sehr gut an den Augenblick zuvor. Ein gewöhnlicher Moment, einer derjenigen, aus denen die gewöhnliche Zeit gewebt ist. Er ist damit beschäftigt, das Aquarium zu reinigen, das sich im Büro eines höheren Offiziers befindet. Alle Büros von höherrangigen Offizieren in der Verwaltung von Strafvollzugsanstalten sind mit einem Aquarium ausgestattet. Sind sie alle Fischliebhaber? Könnten sie, wenn sie es nicht wären, darum bitten, man möge das Aquarium entfernen? Wahrscheinlicher ist, dass sie gar nicht darüber nachdenken. Eduard für seinen Teil reinigt gerne Aquarien, sie sind weniger schmutzig und lustiger als Klos. Mit einem Kescher hat er die Fische in einen Kübel ver frachtet und das Wasser Eimer für Eimer abgegossen, jetzt ist das Aquarium trocken, und er wischt die Wände mit einem Schwamm aus. Während er sich dieser Aufgabe widmet, trainiert er seine Atmung. Er ist ruhig, konzentriert und ganz bei dem, was er tut und fühlt. Er erwartet nichts Besonderes.
    Und plötzlich hält unvermittelt alles an. Die Zeit, der Raum: Doch es ist nicht der Tod. Nichts von dem, was ihn umgibt, hat sein Aussehen verändert, weder das Aquarium noch die Fische in ihrem Bottich, noch das Büro des Offiziers, noch der Himmel hinter dem Fenster des Offiziersbüros, doch es ist, als sei all das bis jetzt nur ein Traum gewesen und würde mit einem Mal vollkommen wirklich. Als sei es potenziert, offenbart und gleichzeitig aufgehoben. Er ist eingesogen in eine Leere, die voller ist als alles, was voll ist in der Welt, in eine Abwesenheit, die anwesender ist als alles, was die Welt mit ihrer Anwesenheit erfüllt. Er ist nirgendwo mehr, und er ist vollkommen da . Er existiert nicht mehr, und er war nie so lebendig. Es gibt nichts mehr, es gibt alles.
    Man kann das Trance nennen oder Ekstase oder eine mystische Erfahrung. Mein Freund Hervé sagt: Es ist eine Entführung.
    Ich würde gern länger, ausführlicher und überzeugender darüber sprechen können, aber mir ist klar, dass ich nur Oxymora anhäufen kann. Dunkle Klarheit, gefüllte Leere, unbewegte Schwingung, ich könnte lange so fortfahren, ohne dass der Leser oder ich dabei weiterkämen. Wenn ich die Erfahrungen und Worte von Eduard und Hervé miteinander vergleiche, kann ich nur sagen: Beide sind sich absolut gewiss, dass sie – der eine vor dreißig Jahren in einer Pariser Wohnung, der andere in einem Offiziersbüro im Straflager Nr. 13 in Engels, wo er das Aquarium putzte – Zugang zu dem gehabt haben, was die Buddhisten Nirvana nennen. Die reine, filterlose Wirklichkeit. Nun kann
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