Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
Vom Netzwerk:
Organische ist mehr oder weniger essbar, und alles Essbare wird gegessen: So lautet das Gesetz des Lagers.
    Um 6 Uhr 30 folgt auf der zentralen Rasenfläche der erste Appell. Name, Vorname, Vatersname, Strafartikel. Es gibt drei Appelle täglich, und da sie achthundert Häftlinge sind, dauert jeder davon eine gute Stunde. Im Sommer ist es auszuhalten, da sonnt man sich in der Zwischenzeit – aber im Winter ist es härter. Eduard schätzt sich glücklich, im Mai ins Lager von Engels gekommen zu sein, so hat er Zeit, sich allmählich daran zu gewöhnen. Nach dem Appell kommt die sarjadka , eine halbe Stunde gemeinsame Gymnastik, und dann – endlich – das Frühstück. Achthundert kahlrasierte Zeks folgen einander schubweise in den riesigen Speisesaal. Ein Geklapper von Löffeln, ein Geschlabber und Streitereien, die sofort erstickt werden, und über all dem eine undefinierbare Musik zwischen Hardrock und symphonischem Potpourri, deren martialische Taktschläge, denkt Eduard, zur Revolte anstacheln müssten und dazu, alles zu zerschlagen und die Köpfe aufzuspießen, aber nein: Mit gekrümmtem Rücken schlingen die Zeks ihre Arme um die Blechnäpfe, als liefen sie Gefahr, dass einer ihnen die karge Ration klaue, und stopfen schweigend Kascha und dünne Suppe mit ein wenig dunklem Brot in sich hinein. Diese vitaminlose Nahrung verleiht ihnen eine graue Hautfarbe und ihrer Scheiße jenen ungesunden Geruch, der Eduard auffiel, und raubt ihnen, ohne dass sie des Hungers sterben, jede Energie. Und das ist sicher beabsichtigt.
    Im Unterschied zu den Gefängnissen, die er kennengelernt hat, ist Engels ein Arbeitslager und sogar eines zur Umerziehung durch Arbeit: Nach dem Frühstück muss man schuften. Die Eigenart dieser Arbeit ist, dass sie in der Regel zu nichts nutze ist. Kurz nach Eduards Ankunft gibt es heftige Regenfälle, die ständig die Gebäude unter Wasser setzen. Der Boden aber muss zu jedem der drei Appelle trocken sein, so hat es die Verwaltung beschlossen, sonst gibt es Fernsehverbot für alle – Eduard persönlich ist das egal, aber für die anderen wäre es eine Tragödie. Das Ergebnis ist ein groteskes Filmspektakel: Lange Reihen von Häftlingen schöpfen von morgens bis abends mit Wassergläsern Pfützen aus, die sich ständig wieder auffüllen. Eduard denkt zunächst, es wäre vernünftiger, mit ein paar Maurerarbeiten das Abflusssystem zu verbessern. Er überlegt sogar, diese Idee zu äußern, aber glücklicherweise hält er sich zurück und begreift rechtzeitig: Wenn sich die Verwaltung nicht wie ein vernunftbegabter Arbeitgeber verhält, dann deshalb, weil Sisyphosarbeit eine alte Lagertradition ist. Es gibt nichts Deprimierenderes, so beobachteten es sämtliche Gulag-Veteranen, als sich für eine unnütze und absurde Aufgabe zu schinden wie beispielsweise ein Loch zu graben und dann ein zweites, um in dieses die Erde aus dem ersten hineinzuschaufeln und so weiter. Ein guter Zek ist ein zermürbter, kraftloser Zek : Auch das ist gewollt.
    Mit seinen sechzig Jahren gilt Eduard als Rentner, und als solcher ist er von Schwerstarbeit befreit, doch man lässt ihn auch nicht schreiben, lesen oder meditieren wie in Lefortowo und Saratow. Bis zum Abend ist es ihm verboten, in seine Baracke und zu seinen Büchern und Heften zurückzukehren, und man weist ihm Reinigungsaufgaben zu, die gleichermaßen absurd sind. Gründlich, und zwar wortwörtlich gründlich, eine Reihe von Klos zu putzen, das braucht höchstens eine Stunde. Doch man lässt ihm vier Stunden. Also schön, dann wird er eben vier Stunden damit verbringen: Viermal wird er das gleiche Werk von vorn verrichten, keine Klobrille der Welt wird je so geglänzt haben, und niemand wird ihn dabei auch nur eine Minute lang Löcher in die Luft starren sehen.
    Eduards Eifer ist nicht nur äußerlich. Auch innerlich ist er nicht träge. Eintönige und wiederkehrende Beschäftigungen befördern das Träumen, und der heilige Pascha Rybkin, der Yogi von Saratow, hat ihn gewarnt: Träumerei ist das genaue Gegenteil von Meditation. Ein kleines, mentales Hintergrundgeräusch, dessen sich die meisten Leute nicht einmal bewusst sind, obgleich es den schlimmsten Verlust an Zeit und Energie darstellt. Um dem zu entgehen, zählt er entweder seine Atemzüge und verlängert sie, konzentriert sich auf den Luftstrom von den Nasenlöchern bis zum Unterleib und zurück, oder er sagt sich Gedichte auf, die er auswendig kennt, wobei er jedem Vers vollste Aufmerksamkeit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher