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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
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harten Kerls, der nicht buckelt.
    »Denken Sie darüber nach«, sagt Pristawkin.
    Nach diesem Besuch ist sein Schicksal ungewiss, und die Tatsache, dass man an höchster Stelle darüber entscheidet, verleiht ihm einen seltsamen Status: Respekt, Eifersucht, die Vorstellung, man sollte sich besser nicht mit ihm anlegen … Wenn er darauf angesprochen wird, wiegelt er ab: Dieser Pristawkin muss besoffen gewesen sein, die Sache wird keine Folgen haben.
    Er irrt sich, und sein Anwalt, der aus Moskau kommt, um ihn zu besuchen, bestätigt es. Die öffentliche Meinung hat sich zu seinen Gunsten gewendet. Man betrachtet ihn nicht mehr als Terroristen, sondern in der Tat als eine Art Dostojewski, der im hintersten Winkel des Totenhauses große Bücher schreibt; der Opportunist Pristawkin musste sich gesagt haben, dies sei die ideale Gelegenheit, um sich als Liberaler zu profilieren. Eduard jedoch weigert sich weiterhin, die auferlegte Bedingung anzunehmen. Für ihn geht es um seine Ehre. Der Anwalt schlägt eine spitzfindige Lösung vor: Man umgeht die Frage nach der Schuld und besteht stattdessen auf der Tatsache, dass er den Schuldspruch nie angefochten hat.
    So gedreht: in Ordnung, stimmt Eduard zu.
    Danach geht es sehr schnell. Zu schnell sogar. Er hatte sich auf den Rhythmus einer langen Strafe eingestellt, hatte seine Gedanken und Pläne und sogar seinen Stoffwechsel danach ausgerichtet, und plötzlich kündigt man ihm an, in zehn Tagen, in acht, in drei sei alles vorbei; man klappt die Kulissen zusammen, verabschiedet die Statisten und geht zu einem anderen Film über. Der Direktor lädt ihn nicht vor, sondern lädt ihn ein , in seinem Büro vorbeizukommen, und behandelt ihn von nun an als VIP  – als wäre alles zuvor nur ein Scherz gewesen, ein Rollenspiel, das man nach Spielende unter kultivierten Leuten kommentieren kann. Er lässt sich sein Exemplar des Buchs der Gewässer signieren und zeigt sich besorgt, welche Erinnerung dieser bedeutende Ex-Häftling wohl von seinem Etablissement bewahren wird. »Ich werde es gern meinen Freunden weiterempfehlen«, antwortet Eduard, und der Direktor ist begeistert von soviel Esprit: »Sie werden es Ihren Freunden weiterempfehlen? Haha! Was sind Sie für ein Witzbold, Eduard Wenjaminowitsch!«
    Vorzeitige Entlassungen sind in Engels sehr selten, und die seine riecht dermaßen nach Beziehungen, dass es ihm seinen Zellengenossen gegenüber peinlich ist. Nachdem er sehr aufrichtig alles getan hat, um ihnen zu beweisen, dass er ein kleiner Muschik ist wie sie und hin- und hergeworfen vom schlechten Wind der Gefängnisse, ist er jetzt nicht weit davon entfernt, sich mit ihren Augen als einen dieser Journalisten zu sehen, die für die Dauer einer Reportage den Obdachlosen oder den Knacki spielen und am Ende ihrer Safari zu ihren Kumpels sagen: »Ciao, Leute, war super mit euch, ich werd’ an euch denken, zu Weihnachten schick’ ich euch Gänseleber« – ein Versprechen, das sie in der Regel schnell vergessen. Ein solcher Typ würde ihn selber anwidern, und Eduard ist erleichtert und gleichzeitig überrascht, dass ihm niemand in Engels gram ist und sein Ansehen sogar enorm gestiegen ist. Offenbar sind alle ganz glücklich, einen wichtigen Typen zu kennen, dessen Angelegenheiten sich durch Mauscheleien in den höchsten Etagen regeln, und erzählen zu können, sie hätten ihn persönlich gekannt; und am Ende ist es Eduard, der von soviel Naivität etwas angewidert ist.
    Am Vorabend seiner Entlassung erlaubt man ihm, seinen Koffer bei der Aufbewahrung abzuholen. Dieser Koffer ist einer seiner Fetische. Er hat ihn Steven geklaut, als er New York verließ, um nach Paris zu gehen; der Koffer hat ihn überallhin begleitet, in den Krieg, ins Altaigebirge, in seine Gefängnisse, und er enthält zwei Hemden, ein schwarzes und ein weißes. Am Abend gibt es in der Baracke einen Abschiedstrunk, Umarmungen und Schulterklopfen, und man diskutiert lange darüber, welches der beiden Hemden geeigneter ist, um beim Verlassen des Gefängnisses getragen zu werden. Die Frage ist umso wichtiger, als das Ereignis gefilmt werden soll: Das Fernsehen hat angefragt. Eduard hatte erst gezögert, aber der Direktor legte großen Wert darauf, und die Gefangenen sind von dieser Aussicht begeistert wie Kinder, denen man einen Zirkusbesuch verspricht.
    »Du musst das weiße anziehen, das ist eleganter«, sagt Anton, ein netter Junge, der wegen besonders grausamen Mords zu dreißig Jahren verurteilt ist.
    »Aber
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