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Lieder von Sternen und Schatten

Lieder von Sternen und Schatten

Titel: Lieder von Sternen und Schatten
Autoren: George R. R. Martin
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stellte sie auf den Tisch, dann zog er das weiße Tuch weg, in das er sie gewickelt hatte.
    Der Sockel war ein Dreieck von steinharter Schwarzrinde, und von den Ecken erhoben sich drei lange Beinspäne, um ein Pyramidengerüst zu bilden. Darin stand, aus weichem Blauholz in allen Einzelheiten kunstreich geschnitzt, Bakkalon, das bleiche Kind, ein gemaltes Schwert in der Faust.
    »Was bedeutet das ?« fragte Feldbischof Lyon, offensichtlich betroffen.
    »Ein Sakrileg«, antwortete Feldbischof Dhallis.
    »Nichts derart Ernstes«, erklärte Gorman, Feldbischof für schwere Waffen. »Die Tiere versuchen nur, sich einzuschmeicheln, in der Hoffnung, daß wir unsere Schwerter sinken lassen.«
    »Niemand als der Samen der Erde darf sich vor Bakkalon neigen«, sagte Dhallis. »Das steht im Buch geschrieben. Das bleiche Kind wird nicht wohlwollend auf die Seelenlosen blicken.«
    »Still, meine Waffenbrüder!« sagte der Proktor, und es wurde am Tisch augenblicklich still. Wyatt lächelte dünn. »Das ist das erste der Wunder, von denen ich diesen Winter in der Kapelle gesprochen habe, das erste der sonderbaren Ereignisse, in die Bakkalon mich eingeweiht hat. Denn er ist wahrlich auf dieser Welt gewandelt, auf unserem Corlos, so daß sogar die Tiere des Feldes sein Ebenbild kennen. Denkt darüber nach, Brüder. Denkt über diese Figur nach. Stellt euch ein paar einfache Fragen. Ist je einem der Jaenshi-Tiere gestattet worden, den Fuß in diese heilige Stadt zu setzen?«
    »Nein, natürlich nicht«, sagte jemand.
    »Dann hat gewiß keiner von ihnen das Hologramm gesehen, das über unserem Altar steht. Ich bin auch nicht oft zu den Tieren gegangen, da meine Pflichten mich hier in den Mauern festhalten. So konnte keines das Abbild des bleichen Kindes auf der Amtskette sehen, die ich trage, denn die wenigen Jaenshi, die mein Gesicht zu sehen bekamen, blieben nicht am Leben, um davon zu berichten – es waren jene, die ich verurteilte und getötet wurden. Die Tiere sprechen nicht die Sprache des Erdensamens, noch haben Leute von uns ihre einfache Tiersprache gelernt. Und als letzten Punkt muß man erwähnen, daß sie das Buch nicht gelesen haben. Bedenkt dies alles und fragt euch, wie ihre Schnitzer wissen konnten, welches Gesicht, welche Gestalt sie formen sollten.«
    Stille. Die Führer der Kinder von Bakkalon sahen einander staunend an.
    Wyatt faltete ruhig die Hände.
    »Ein Wunder. Wir werden keine Probleme mehr mit den Jaenshi haben, denn wir wissen jetzt, daß das bleiche Kind zu ihnen gekommen ist.«
    Feldbischof Dhallis, an der rechten Seite des Proktors sitzend, war erstarrt.
    »Mein Proktor, mein Führer im Glauben«, sagte sie mit einiger Schwierigkeit, als müsse sie jedes Wort aus sich herauspressen, »Sie wollen uns doch gewiß, ganz gewiß nicht sagen, daß diese, diese Tiere – daß sie das bleiche Kind verehren können, daß es ihre Anbetung annimmt?«
    Wyatt wirkte ruhig und gütig; er lächelte nur.
    »Sie brauchen Ihre Seele nicht belasten, Dhallis. Sie fragen sich, ob ich dem Ersten Trugschluß verfallen sein kann, denken vielleicht an das Sakrileg von G'hra, als ein gefangener Hranga sich vor Bakkalon verneigte, um sich vor dem Tod eines Tieres zu retten, und der Falsche Proktor Gibrone verkündete, alle, die das bleiche Kind verehrten, müßten Seelen besitzen.« Er schüttelte den Kopf. »Seht ihr, ich lese das Buch. Aber nein, Feldbischof, es hat kein Sakrileg stattgefunden. Bakkalon ist unter den Jaenshi gewandelt, aber ER hat ihnen gewiß nur Wahrheit gegeben. Sie haben IHN in all Seiner gewappneten schwarzen Pracht gesehen und IHN verkünden hören, daß sie Tiere sind, ohne Seele, wie ER es gewiß verkündet haben wird. Demnach haben sie ihren Platz in der Ordnung des Universums eingenommen. Sie werden nie wieder einen Menschen töten. Erinnert euch, daß sie sich nicht vor der Figur verbeugt haben, die sie brachten, sondern sie uns gaben, dem Samen der Erde, der allein sie rechtmäßig verehren kann. Als sie sich niederwarfen, geschah das vor unseren Füßen, als Tiere vor Menschen, und so gehört es sich auch. Seht ihr? Sie haben die Wahrheit erfahren.«
    Dhallis nickte.
    »Ja, mein Proktor. Ich bin erleuchtet. Verzeihen Sie meinen Augenlick der Schwäche.«
    Aber auf halbem Weg den Tisch hinunter beugte C'ara DaHan sich vor und verflocht die großen, knochigen Hände ineinander, während sich seine Stirn furchte.
    »Mein Proktor«, sagte er schwerfällig.
    »Waffenmeister?« gab Wyatt zurück. Sein
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