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Lieder von Sternen und Schatten

Lieder von Sternen und Schatten

Titel: Lieder von Sternen und Schatten
Autoren: George R. R. Martin
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kippen um, bevor ihr Leben so richtig angefangen hat, die anderen mitten in der besten Zeit. Andere treiben sich noch herum, nachdem alles schon lange vorbei ist.«
    Wenn ich oben allein sitze, Squirrel warm auf meinem Schoß, ein Glas Wein neben mir, denke ich oft an Korbecs Worte und an die schwerfällige Art, wie er sie aussprach; seine rauhe Stimme war seltsam sanft. Er ist kein kluger Mann, Korbec, aber in dieser Nacht, glaube ich, sagte er etwas Wahres, vielleicht, ohne es selbst zu wissen. Aber der ermattete Realismus, den er mir damals anbot, ist das einzige Gegenmittel, das es gegen die Träume gibt, die von Spinnen gewoben werden.
    Aber ich bin nicht Korbec, noch kann ich es sein, und während ich seine Wahrheit erkenne, kann ich sie doch nicht leben.
     
    Ich war am späten Nachmittag im Freien, um Zielschießen zu üben, und trug nichts als meinen Köcher und eine Hose mit abgeschnittenen Beinen, als sie kamen. Es wurde schon dunkel, und ich machte mich locker für meinen nächtlichen Ausflug in den Wald – selbst in dieser frühen Zeit lebte ich schon von der Abend-bis zur Morgendämmerung, wie die Traumspinnen es tun. Das Gras fühlte sich an meinen nackten Sohlen gut an, der doppelt geschweifte Silberholzbogen in meiner Hand noch besser, und ich schoß treffsicher.
    Dann hörte ich sie kommen. Ich blickte über die Schulter zum Ufer und sah den dunkelblauen Flugwagen am östlichen Himmel rasch größer werden. Gerry, natürlich, das erkannte ich am Geräusch; sein Flugwagen gab seltsame Laute von sich, seit ich ihn kannte.
    Ich drehte ihnen den Rücken zu, spannte ganz ruhig die Sehne und traf ins Schwarze.
    Gerry landete im Unkraut vor dem Sockel des Turms, ganz in der Nähe meines Flugwagens. Crystal war bei ihm, schlank und ernst, ihr langes, goldenes Haar schimmerte rot in der Nachmittagssonne. Sie stiegen aus und gingen auf mich zu.
    »Stellt euch nicht in die Nähe der Zielscheibe«, sagte ich, während ich den nächsten Pfeil einlegte und den Bogen spannte. »Wie habt ihr mich gefunden?« Das Schwirren des Pfeiles in der Zielscheibe untermalte meine Frage.
    Sie machten einen weiten Bogen um meine Schußbahn.
    »Du hast einmal erwähnt, du hättest diese Stelle von der Luft aus entdeckt«, sagte Gerry, »und wir wußten, daß du nirgends in Port Jamison warst. Ein Versuch schien sich zu lohnen.« Er blieb einen Meter vor mir stehen, die Hände auf den Hüften; er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: groß, schwarzhaarig und in sehr guter körperlicher Verfassung. Crystal trat zu ihm heran und legte eine Hand leicht auf seinen Arm.
    Ich ließ den Bogen sinken und drehte mich nach ihnen um.
    »So. Gut, ihr habt mich gefunden. Warum?«
    »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Johnny«, sagte Crystal leise. Aber als ich sie ansah, wich sie meinem Blick aus.
    Gerry legte den Arm um ihre Hüfte, ganz besitzergreifend, und in mir flammte etwas auf.
    »Davonlaufen ist noch nie eine Lösung gewesen«, erklärte er mir. Seine Stimme war voll von dem eigenartigen Gemisch aus freundschaftlicher Sorge und herablassender Arroganz, mit dem er mir monatelang begegnet war.
    »Ich bin nicht davongelaufen«, sagte ich gepreßt. »Verdammt! Ihr hättet auf keinen Fall kommen sollen.«
    Crystal sah Gerry tieftraurig an, und es war klar, daß sie plötzlich genau dasselbe dachte. Gerry zog nur die Brauen zusammen. Ich glaube nicht, daß er jemals begriffen hat, warum ich sagte oder tat, was ich sagte oder tat; sooft wir über das Thema sprachen, was nur selten vorkam, erklärte er mir nur mit vager Verwirrung, was er getan hätte, wenn unsere Rollen vertauscht gewesen wären. Es erschien ihm unendlich seltsam, daß irgend jemand in derselben Lage auch nur auf den Gedanken kommen konnte, etwas anderes zu tun.
    Sein Stirnrunzeln berührte mich nicht, aber den Schaden hatte er schon angerichtet. In dem Monat meines selbstgewählten Exils am Turm hatte ich versucht, mit meinen Handlungen und Stimmungen ins reine zu kommen, und es war alles andere als leicht gewesen. Crystal und ich waren lange Zeit zusammen gewesen beinahe vier Jahre lang – als wir auf Jamisons Welt kamen, auf der Fährte einzigartiger silberner und Obsidian-Artefakte, die wir auf Baldur entdeckt hatten. Ich hatte sie die ganze Zeit hindurch geliebt und liebte sie immer noch, selbst jetzt, nachdem sie mich wegen Gerry verlassen hatte. Wenn ich mit mir einig ging, schien es mir, daß der Impuls, der mich aus Port Jamison vertrieben hatte,
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