Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
Autoren: Sofja Tolstaja
Vom Netzwerk:
Dampflokomotive begann zu keuchen, und, nachdem der Zug einmal kurz zitternd zurückgesetzt hatte, als ob er alle Kraft zusammennehmen müsse, setzte er sich langsam in Bewegung.
    Sascha blickte aus dem Fenster, auf die Menschen, die langsam den Bahnsteig entlangschritten. Dann betrachtete Sascha ihre Reisegefährtin: eine Dame mittleren Alters, deren Äußeres beruhigend auf Sascha wirkte. Sascha holte ihr Buch hervor, befestigte den Reisekerzenhalter an der Wand und vertiefte sich in die«Consolation de Marcia»von Seneca. 5
    «Quelle folie en effet de se punir de ses misères, de les aggraver par un mal nouveau» , 6 las Sascha in der Trostschrift an Marcia, die ihren Sohn verloren hatte. Seneca rät, sich nicht der Trauer hinzugeben. Er führt das Beispiel zweier Frauen aus dem römischen Altertum an: Oktavia und Livia trauerten beide um einen verstorbenen Sohn. Die Erstere versenkte sich ganz in düsteren Schmerz und verbat, den Namen ihres Sohnes in ihrer Gegenwart zu erwähnen. Livia hingegen führte nach dem Tod ihres Sohnes ein ruhiges Leben, erinnerte sich immerwährend an ihn, sprach viel von ihm und machte so sein Andenken zu einem Begleiter ihres Lebens.
    «Kann man denn überhaupt Trost finden? Kann man denn, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, so wie ich die Mutter verliere, über Linderung des Schmerzes nachdenken? Man kann so nicht leben, es ist ganz unmöglich…», dachte Sascha, Tränen traten ihr in die Augen und ließen sie nicht weiterlesen.
    «Mais si nuls sanglots ne rappellent à la vie ce qui n’est plus» , las sie alsdann, «si le destin est immuable, à jamais fixé dans ses lois, que les plus touchantes misères ne sauraient changer; si enfin la mort ne lâche point sa proie, cessons une douleur qui serait sans fruit. Soyons donc maître et pas jouet de sa violence …» 7
    «Ihr Billett», ertönte die tiefe Bassstimme des Kontrolleurs. Sascha zuckte zusammen und begriff zunächst nicht. Eilfertig suchte sie dann in ihrer Tasche und reichte ihm ihren Fahrschein. Der Kontrolleur sagte:«Moskau – Jalta», der Kondukteur notierte es in seinem Buch; wohltuend erfrischte der Lufthauch, der durch die geöffnete Tür ins Abteil strömte, und wieder war es still.
    Ta-tam, ta-tam: Mit eintönigem, stählernem Dröhnen lärmten die Räder des Zuges über die Gleise. Sascha schloss das Buch und ließ das Gelesene auf sich wirken. In ihrem Innern tobte ein schwerer Kampf zwischen ihrer Trauer und Verzweiflung über den bevorstehenden Tod der Mutter und ihrem Wunsch, nicht zu leiden, ihrem Wunsch, jemand möge ihr gestatten, ihr junges, übervolles Leben weiterzuleben.
    Ta-tam, ta-tam peinigten lärmend die Räder. Sascha konnte sich nur schwer an dieses unerträgliche Getöse gewöhnen. Sie hörte genau hin, dann verwirrten sich ihre Gedanken, und sie dämmerte ein. Und jäh erstand aus dem eintönigen Geräusch in ihrer Vorstellung eine Melodie, aus der sich ein vollendetes musikalisches Thema ergab, die sich schließlich sogar mit den leisen Tönen der Begleitstimme eines ganzen Orchesters vereinigte. Die Melodie war feierlich, traurig und großartig.
    Sascha war überaus musikalisch. Sie spielte gut Klavier und sang sicher mit ihrer nicht sehr kräftigen, aber eindringlichen und feinen Stimme. Als sie noch jung war, sollte sie das Konservatorium besuchen. Doch Sascha heiratete früh. Ihr Gatte war zwar bemüht, ihrer Beschäftigung mit der Musik Verständnis entgegenzubringen, empfand allerdings eine solche Abneigung gegen die Musik, dass dies zu verbergen ihm nicht gelang. Sascha spielte und sang nur in seiner Abwesenheit und hatte wegen ihrer Schlaflosigkeit und Nervosität zuletzt gar gänzlich damit aufgehört.
    Ein Klingeln – das Ende der Melodie, der Zug hielt an. Saschas Reisegefährtin warf eilig Mantel und Hut über.
    «Was ist?», fragte Sascha.
    «Ein großer Speisesaal, man sollte etwas essen», antwortete die Reisegefährtin.«Kommen Sie.»
    «Ja, sofort.»Sascha beeilte sich, und zusammen liefen sie schnell zum Eingang des hell erleuchteten Bahnhofs, mitgerissen von der geschäftig dahineilenden Masse von Passagieren, die rücksichtslos zum Essen hinstürzten, zu den Bediensteten in ihren Fracks, den weißen Köchen an den Tischen mit den Speisen und den Kellnern in den weißen Schürzen. Sascha aß ohne Hunger eine heiße, fettige Kohlsuppe, bezahlte, suchte mit den Augen ihre Begleiterin und war froh, als sie sich wieder in ihrem Kupee niederlassen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher