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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
Autoren: Sofja Tolstaja
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Lärm, den ihr Sohn machte, ließ sie oftmals in Tränen ausbrechen. Die Ärzte sagten, die Trauer habe Saschas ohnehin angegriffene nervliche Verfassung noch verschlechtert, und diagnostizierten Neurasthenie. Einer riet zu einer Reise ins Ausland, ein anderer zur Behandlung mit Strom – Sascha indes hörte nicht darauf, wurde wütend und war weiterhin krank.
    Der Frühling kam zeitig. Wie heiter war er einst gewesen, hatte Sascha mit neuen Hoffnungen, Plänen, neuer Kraft und ungestümem Entzücken erfüllt! Doch als nun die Zugvögel zurückkehrten, die Mietkutschen wieder über die Straßen zu poltern begannen, welche der schmelzende Schnee in Bäche verwandelt hatte, und als die Kirchenglocken zur vorösterlichen Fastenzeit erklangen, blieb Sascha unbewegt. Ihr Ehemann schlug vor, aufs Land, ins Haus der Mutter zu fahren, den Bruder dort zu besuchen und Vorbereitungen für den Sommeraufenthalt zu treffen. Zunächst fürchtete Sascha die traurige Erinnerung, doch da sie auch in Moskau schwermütig war, erklärte sie sich einverstanden, ihren Mann zu begleiten. Es schien, als wollte sie ergründen, ob sie die Kraft habe zum Leben auf dem Land, wo sie mit der Mutter jeden Sommer verbracht hatte.
    Anfang April kamen Sascha und Pjotr Afanassjewitsch an der vertrauten kleinen Bahnstation an, die sich in drei Werst Entfernung zum Landgut der verstorbenen Mutter befand. Als der Zug hielt, war es noch früh am Morgen. Schläfrige Reisende blickten aus dem Fenster und legten, nachdem sie den Wald erblickt und begriffen hatten, dass es noch nicht an der Zeit sei auszusteigen, den Kopf sofort wieder nieder. Pjotr Afanassjewitsch brachte das Gepäck zur Plattform. Der Zug stand eine Minute; Sascha sprang rasch hinunter und nahm die Taschen, Decken, Körbe entgegen, die ihr Mann ihr reichte. Dann sprang auch er auf den vereisten Bahnsteig, und der Zug fuhr unter lautem Pfeifen davon.
    «Sind die Pferde für uns bereit?», fragte Pjotr Afanassjewitsch.
    «Ja», antwortete der altbekannte Stationsvorsteher und hielt seine Hand grüßend an die rote Uniformmütze.«Aber der Weg – ein Greuel. Weder mit den Kufenschlitten noch mit der Kutsche kommt man durch. Zwei Gleitschlitten sind da.»
    «Das ist doch wunderbar. Welche Luft, Sascha! Sicher sind die Treibkästen schon befüllt, und Timofejitsch hat ausgesät.»
    Sascha schwieg. Sie blickte sich um und schien nichts wiederzuerkennen. Wie sehr hatte sie sich seit dem letzten Mal verändert! Auf alles legte sich ihre Trauer. Doch wie schön war gleichwohl die helle Morgensonne vor dem hellblauen, ungetrübten Himmel; und wie leicht, unmerklich verloren sich die durchsichtigen braunen Wipfel der jungen Birken in der Morgenröte. Die Eichen des alten Stadtwaldes trugen noch die grauen, vertrockneten Blätter des Herbstes, die aus irgendeinem Grund nicht abgefallen waren. Die Knospen, bereit aufzuspringen, prangten schwellend an den Weiden und Espen, und die Vögel lärmten wie toll im Wald.
    Und dann das Gut.«Ist dies tatsächlich unser Haus, unsere Allee, jener Ort, an dem wir lebten?», dachte Sascha, als sie am Teich vorbeifuhren.
    Die Bauersfrauen verneigten sich auf dem Steg, wo sie mit kalten, roten Händen die Wäsche auswrangen… Zwei Schlitten brachten Saatgut zu den Treibhäusern. Aus dem Wald kamen Bauern mit Reisig. Wie gelassen, ruhig, selbstverständlich, nützlich und bedeutsam ist doch alles, was auf dem Land sich vollzieht.
    Pjotr Afanassjewitsch war begeistert.«Warum wird das Saatgut denn so spät gebracht… Sicher sind noch Treibhäuser zusätzlich errichtet worden für eine spätere Saat… Wie fest der Schnee an manchen Stellen noch ist… Saschenka, sieh doch, was ist das denn für ein Vogel, ich kann es nicht erkennen… Wie schön, wie schön!… Nur das ist Leben, was auf dem Land ist! – Petka, Petka», rief er einem herbeilaufenden Bauernjungen zu.
    Pjotr Afanassjewitsch hielt es nicht mehr auf dem Schlitten, er sprang hinunter und lief voran. Er liebte das Land, die Natur, liebte sie auf schlichte, kindliche Art, und er liebte es, dem Boden mit seiner Hände Arbeit alles abzugewinnen, was dieser gab.
    Im Hauseingang wurden sie aufgeregt und freudig vom Bruder in Empfang genommen. Er selbst war unlängst erst in das nach dem Tod der Mutter verwaiste Landhaus zurückgekehrt und ertrug die Einsamkeit nur schwer. Er hatte alles getan, damit der erste Eindruck des Hauses für Sascha behaglich und nicht betrüblich wäre. Auf dem Tisch brodelte der
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