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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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ihr zärtlich zu nähern. Es sind simple Lieder,
Lieder, deren Klang sanft durch Raumfluchten streift, man hört ihn über den
Fluß und durch die Gassen. Das schläfert wie sonst nichts. Höre einem zu, der
hinter vielen Straßen singt und dabei ein Saiteninstrument anschlägt, und schon
verspürst du den Wunsch, nichts anderes zu tun als zu schlafen. Und daher
brauche ich die Gioconda, übertragen in das Bild meiner Nacht in meiner
Gitarre.
    Die zweite Wächterin konnte ich aus dem
Leben greifen, und das tat ich ohne Zögern. Denn das ist Schwester Antonia. Der
Leser kennt sie nicht, wird sie auch niemals kennen lernen, und ich will
versuchen, ihm dieses Versäumnis nicht allzu schmerzlich vor Augen zu führen.
Mit der Gioconda hat sie nichts gemein als eine südliche Herkunft und den
entsprechenden Klang des Namens. Suor Antonia. Das
Edle, Elfenbeinerne fehlt ihr völlig, sie ist ganz Materie, schwere Masse, dort
wo Mona Lisa schlanke Erscheinung ist. Schwester Antonia weiß nichts von der
Mona Lisa, hat wohl auch noch nie von Leonardo gehört, und das Wort Renaissance
wäre für sie vermutlich gleichbedeutend mit Auferstehung, und zwar einzig und
allein der des Herrn, ihres Herrn, nicht des meinen, ich habe keinen Herrn. Ich
kenne sie gut. Sie hat mich gepflegt, als ich krank war, und indem ich ihr hier
eine Rolle als gleichberechtigte Partnerin zweier großer Damen aus der Zeit
zumesse, danke ich ihr für die liebevolle Pflege, wenn es auch keineswegs nur
Dankbarkeit ist, was mich zu dieser Wahl verleitet. Ich bin in meinem Leben von
vielen Leuten gut behandelt worden, die ich jedoch niemals zu Wächtern über
meinen Schlaf machen würde.
    Suor Antonia ist dick und sehr breit — , wie dick und breit, das läßt sich unter den vielen Ellen
von grobem schwarzen Kattun und gestärkten weißen Leinen nicht feststellen, dem
weitschweifigen Habit der Vincentinerin . Auch ihre
Kopfform ist ein tiefverborgenes Geheimnis, hinter dem vielfältigen Segel von
Schleier und Haube, das ihren Blick geradeaus lenkt. Nackt gibt es sie nicht,
schon das Wort »Körper« ist, für sie angewandt, eine Blasphemie. Sie kennt
wenig außer ihrem winzigen Geburtsort, der Surava heißt, und dem nicht viel größeren Ort, wo das Spital steht. Dort kennt sie
ihre Oberin, ihre Schwestern im Orden und ihren Beichtvater — was mag sie zu
beichten haben? — , den Rosenkranz unter den Falten ihrer Röcke, das Inventar
des Spitals und ihre Kranken, die, selbst wenn sie genesen, für sie krank
bleiben und erst endgültig gesund werden, wenn sie gestorben sind. Ja, sie hegt
ein taktvoll verhaltenes Mitleid für alle, die sich schon im Diesseits
eingerichtet haben. Sie selbst, an Körper zwar gesund und damit dem Diesseits
gehörig, weiß ihre Seele schon im Jenseits zuhause. Dort wird sie dann allen
Tand ablegen, den sie hier noch mit sich trägt, vor allem ihre dicken schwarzen
Wollstrümpfe, die sie in freien Stunden selbst stopfen muß, wie eine Büßerin.
Als sie noch jung war, erschien ihr diese Arbeit als die Essenz aller irdischer Müßigkeit, aber der Sturm in ihr hat sich lange
zur Ruhe gelegt, und nun weiß sie alles Allzu-Irdische mit Gebet zu bedecken.
    Sie ist braun von Angesicht, die Hände
sind rot und grob, sie wissen Bettflaschen und Nachtstuhl zu handhaben, niemals
aber die Griffe der Gitarre meiner Nacht. Sie wird also nicht einspringen
können, wenn meine zerbrochenen Hände versagen oder im Schlaf zurückfallen. Da
müssen denn die anderen beiden Wächterinnen herhalten. Sie wird dann an ihrem
Fenster sitzen, freundlich-unverwandt ihre beiden Schwestern in der Schläferung
ansehen, an Gott denken und an ihren schwarzen Wollstrümpfen stopfen, die sie
mitbringen muß, damit sie nicht müßig sitze. Einschlafen darf sie nicht, sie
nicht. Aber sie wird es auch gar nicht wollen. Ich brauche sie wach, wie ich da
in meiner Gitarre liege, brauche sie wie ein banger blasser Knabe seine Negerkinderfrau,
die, wenn sie rechtzeitig angesetzt wird, bewirken mag, daß er sich später nie
mehr vor der Dunkelheit fürchtet. Es ist nicht, daß ich mich vor der Dunkelheit
fürchte, nein, das Kind im Manne habe ich längst überwunden. Dieses Kind ist
auch nicht etwa ein Rest der Kindheit, nein, es wächst vielmehr mit zunehmendem
Alter und der damit zunehmenden Angst vor der Spanne, die dem Mann noch bleibt,
und vor dem, was nach dieser Spanne kommen mag. Ich habe keine Angst vor
irgendwelchen Spannen, denn ich betrete meine Gitarre. Und wenn
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