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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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im Gegenteil — wir stets zu verzaubern trachteten, bis uns endlich die
Vergeblichkeit einer solchen Betrachtung beschämend eingeleuchtet hat. Meine
Gitarre wird so auf dem Tisch stehen, daß kein Licht sie erreicht. Daß die
Kegel aus den drei hohen Fenstern auf den Boden strömen und sich im Glitzern
des Parketts zerstäuben. Und so werde ich seinen Untergang erwarten: er erfolgt
um elf Uhr zweiundzwanzig. Dann wird es dunkel. Freilich, auch die dunkelste
Nacht hat ihre helleren Minuten, Stellen, an denen sie von Verbrauch
fadenscheinig geworden ist, kleine Fehler auch in der Dichte ihres Gewebes, die
schon Copernicus irritierten. Aber es steht zu
hoffen, daß kein wirkliches Flindernis den ruhigen
Verlauf meiner Nacht störe. Und sollte wirklich einmal im Zuge des dunklen
Dunkels ein Streifen helleren Dunkels vorbeiziehen, so werde ich ihm die Augen
verschließen. Auch das soll mich nicht aus dem Gleichgewicht bringen.
    Bin ich allein? Ja, in meiner Gitarre
bin ich allein, aber der Raum, in dem sie steht, darf nicht menschenleer sein.
Ein menschenleerer, dabei möblierter Raum — und sei er auch nur mit einem
Tisch, einer Gitarre und drei Fensterbänkchen möbliert — hätte zu bedeuten, daß
Leute ihn verlassen haben, die jeden Augenblick zurückkehren mögen. Daß das
Rauschen der Nacht sich jeden Augenblick unverhörens zu einem Geräusch verdichten, anwachsen, schwellen und die Wiederkehr eines
Bewohners ankündigen mag. Es hätte zu bedeuten, daß Andere da sind, deren
Abwesenheit nur momentan ist und sich daher als eine besondere, penetrante Art
der Gegenwärtigkeit schlafstörend und beunruhigend bemerkbar macht. Ich muß
meine Nacht behutsam bevölkern, den Raum mit ein paar stummen Zeugen beleben,
Statisten der Nacht und Hüter meines Schlafs.
    Dazu kommt wieder eine Erwägung, die
das Körperliche betrifft. Meine Hände sind zerbrochen, auch sie hat die Zeit
auf ihrem riesigen Gewissen. Ich muß damit rechnen, daß, wenn Schlaf mich
berührt, meine Finger auch den einen Griff, der mir geblieben ist, nicht mehr
recht fassen, daß ich mich noch kurz vor dem Ziel meiner mühevollen
Vorbereitung in Ärger und damit in eine ruhefeindliche Erregung steigere, die
jeglichen Gedanken an Schlaf verscheucht. Dann wäre alles zunichte, und ich
säße in einem Instrument ohne Musik. Hier muß ich mich sichern. Es müssen
Zeugen da sein, Wächter, die zur Not selbst in die Saiten greifen. Unsichtbare
Spieler oder — viel, viel besser noch — Spielerinnen, die meiner Musik ein Echo
werfen, wenn ich, vom Schlaf übermannt, aber eben noch nicht schlafend, meine
Hand von den Saiten gleiten lasse. Ich werde sie in den Nischen unter den
Fenstern placieren, auf den Bänkchen sollen sie sitzen, mit Instrumenten. Von
dort werden sie meinen Schlaf bewachen, aber nicht wie Brangäne ,
die Nacht nach ihren Gefahren absuchend, sondern in sich gekehrt, jede in ihrer
nächtlichen Eigenwelt befangen.
    Nach diesen drei Figuren habe ich das
Haus abgesucht. Ich betrieb die Suche mit System. Um mir keine Nachlässigkeit
vorwerfen zu müssen, begann ich tatsächlich mit dem Keller. Aber dort war, wie
ich erwartet hatte, nichts Brauchbares zu finden. Im Keller sitzen auf den
kalten Kohlen die Parzen und parzenähnliche Gestalten, mit schwarzverhüllten
Köpfen - oder, wenn man so will: Häuptern — und warten auf einen billigen
Transport in eine noch endgültigere und bessere Ewigkeit als die Ewigkeit des
Kellers, obgleich sie an sich keine bessere verdient haben. Manche unter ihnen
summen gar noch eine Melodie, die ich als den Gefangenenchor aus »Fidelio«
erkannte. Auch sitzen da die Mütter, jene Mütter, vor denen schon ein Faust mit
Recht zurückschreckte, sitzen da, mit zerknüllten Taschentüchern voller
kostbarer Tränen, ihr einziges Gut, außer dem Gut, das sie verlassen mußten und
das daher noch kostbarer geworden ist. Mit denen kann ich schon gar nichts
anfangen, vor allem nicht mit den Heroischen, die an ihrer knöchernen Dürre und
ihrer heldischen Haltung zu erkennen sind. Da hocken sie im Kreis, zwischen ihnen ein am Grabmahl des
unbekannten Soldaten niemals niedergelegter Lorbeerkranz. Er ist — was diese
Mütter niemals wissen dürften — aus Lübecker Marzipan, ist aber völlig
versteinert, die Bänder sind zerfranst und von Spinnen zerfressen, von denen es
hier zahlreiche gibt, vornehmlich Weberknechte. Und was noch? Abseits, über
einem Kindertisch, sitzt ein greiser Schulrat, er schreibt an
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