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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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einer
mehrbändigen Geschichte der Zukunft. Sein Bart ist durch den Kindertisch
gewachsen. Nein, hier war nun wahrhaftig nichts zu holen!
    Das Erdgeschoß konnte ich auslassen. Es
besteht aus nichts anderem als eben dem dreifenstrigen, rechteckigen Raum, in
dem ich die Schläferung plane. Er ist vorbereitet, geräumt, abgestaubt, das
Parkett ist gebohnert, das Messing poliert, nichts kann sich in Nischen oder
Ritzen verbergen.
    Ich ging also in das obere Stockwerk.
Die gedrechselte Balustrade war ehemals weiß, heute ist sie elfenbeinfarben,
und an einer bestimmten Stelle knarrt sie. Dort nämlich, wo meine damals junge,
heute noch soldatischjugendliche Schwester sich in jähem Todeswunsch ins
Parterre stürzte und mit dem Sturz den Todeswunsch überwunden hat. Sie ist
heute Mutter von vier Kindern.
    In den oberen Räumen stehen ererbte
Uhren, sonst nichts. Hier habe ich stets wohltuende Leere zu wahren gewußt,
damit ich nicht zu erschrecken brauche, wenn ich eine Tür öffne und einen Raum
betrete. Die Leere ist nicht die furchterregende Leere eines Hauses, das vor
der Besitzergreifung und damit der Möblierung steht, sondern vielmehr die Leere
eines Hauses, das Bewohntheit und Möblierung hinter sich hat. Es ist gereift,
hat das Grauen der Gemütlichkeit abgetan und darf nun dem ruhigeren Rest der
Zukunft entgegensehen. Im letzten Raum aber, da steht eine kupferbeschlagene
Holztruhe. Darin liegen, in duftigen Tüll mit Spitzen und Schleiern gehüllt,
die irdischen Reste einer früh verstorbenen Tante, der jüngsten Schwester
meiner Mutter. Von ihr ist wenig mehr übriggeblieben als ein Lächeln, das der
Tod traf, als es vorüberhuschte. Ihr sei viel erspart geblieben, haben die
Leute damals gesagt, womit sie wahrscheinlich nicht nur die Rippenresektion
meinten — meine Tante war, wie so vieles Liebliche von damals, lungenkrank und
stand kurz vor dem Messer — , sondern auch die allgemeine bange Zukunft,
inzwischen Vergangenheit. Denn je früher man stirbt, desto mehr bleibt einem
erspart, das ist die simple Rechnung der Volksweisheit, die damit den vielen,
aber immer weniger werdenden Ungeborenen das große Glück zumißt. — Wie dem auch
sei, hier ist niemand, den ich als Zeugen meiner Schläferung brauchen kann.
    So öffne ich die Speichertür und
steige, mit schwindender Hoffnung, die Treppe zum Dachboden empor, zu dem
Treibgut, das die Zeit in Wellen unters Dach schwemmt. Mit jedem Schritt wird
es dumpfer und wärmer. Wärme, die sich in vielen Sommern angespeichert und
niemals verflüchtigt hat.
    Hier gibt es viel. Noch halb auf der
Treppe steht ein Pilot, als sei er soeben erst heraufgetragen worden und habe
den rechten Platz noch nicht gefunden. Sein Gesicht steckt unter einem Helm aus
mehreren Schichten von Glas, zwischen denen kleine Fische schwimmen und
Sauerstoff absondern. Neben ihm steht eine Ritterrüstung, die schon immer hier
stand, hinter der ich bis zu meinem fünften Lebensjahr einen Urahn vermutete,
der im Kochertal Handelsherrn auflauerte, sie
beraubte, eigenhändig kastrierte und als Eunuchen an östliche Höfe verkaufte.
Heute aber weiß ich, daß hinter dieser Rüstung etwas lange nicht so
Schätzenswertes steckt, sondern ein bewährter Staatsminister in lang ergrauter
Weste, mit Zwicker und Vatermörder, um den Hals den Malteserorden und einen
Rosenkranz, den Fleißstempel auf der Stirn und am Aufschlag eine Medaille für
Zivilcourage, verliehen vom Amt für öffentliche Auszeichnung, ein Diener vieler
Diener vieler Systeme, bevor er hier in den letzten aufrechten Ruhestand trat.
Ein wenig weiter im Raum, in einem von Staub tanzenden Lichtstrahl, steht die rädrige , gußeiserne Nämaschine ,
daran sitzt die donnerstägliche Flickschneiderin,
über langer, vergeblicher Liebe schon zu Lebzeiten bucklig geworden, dennoch
immer voller Lieder von heiterer Fassung. Steif ist sie, zu einer Statue der
Entsagung galvanisiert, eins geworden mit dem Guß des Gestells, jenseits allen
Schlafes, toter als tot, ein Denkmal.
    Das alles ist nicht sehr ermutigend.
Ich sehe schon, daß ich tiefer werde greifen müssen. Dennoch gehe ich weiter.
An einem schrägen Stützbalken lehnt ein Cello als sei es nur kurz abgelegt, als
kehre sein Spieler sogleich wieder. Für einen Augenblick nur ergreift mich der
Gedanke, ob ich nicht in diesem Instrument schlafen solle. Es bietet mehr
Platz, wirkt schlaffördernd — wie oft hat es im Konzert meinen Schlaf
gefördert! — , seine Wölbung lädt zur Ruhe ein,
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