Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
Vom Netzwerk:
ich auch selbst
nicht glaube, daß noch irgendetwas kommt, so will ich
doch Antonia in der Nähe haben, die es nicht zu glauben braucht, weil sie es
weiß, mit ihrer ganzen Seele weiß. Dies ist ihre große Rolle im Prozeß meiner Schläferung.
    Aber Lisa und Antonia reichen noch
nicht aus. Alle drei Fenster müssen besetzt sein. Zudem muß ich dem geringen
Element, das die beiden ersten gemeinsam haben, dem Südlichen, durch etwas
anderes, ihm fremdes, entgegenwirken, damit es keine stimmungsbedingte und
damit falsche Seligkeit aufkommen lasse. Ich will nicht schwelgen, schlafen
will ich. Und daher habe ich mich — nach anfänglichem Zögern, aber dann mit
zunehmender Überzeugung — für Maria Stuart entschieden.
    Es handelt sich um die mittlere Maria
Stuart. Ich greife sie aus den drei Monaten zwischen Lord Darnley ,
dem zweiten Gemahl und Mörder ihres Sekretärs Rizzio ,
und Lord Bothwell , dem dritten Gemahl und Mörder des
zweiten Gemahls. Es ist gegen Abend, ihr Tagewerk ist getan: sie hat achtundzwanzig
Briefe geschrieben, davon sieben an Königin Elisabeth, und damit ein Stückchen
an ihrer Legende gewoben. Träumend von Verwirklichungen ihrer Leidenschaft und
ihres fruchtlosen Ehrgeizes, Eigenschaften, die ihr selten ein Lächeln
erlauben, sitzt sie mit ihrer Theorbe in meinem Raum,
auf dem Fensterbänkchen, das in diesem Falle zu einem Stuhl am Fenster ihres
intimen, holzgetäfelten Kabinetts in Schloß Holyrood wird, oder auch in Schloß Dunbar oder Schloß
Stirling, in jedem Schlosse aber sitzt sie unter samtenem Behang, unter
gestickten, golddurchwirkten Wappen, neben einem Kamin, in dessen Fugen sich
der Grind finsterster Geschichte gesammelt hat und noch sammeln wird. Sie
blickt hinaus über endlose schottische Nadelwälder, die nicht zu erkennen geben,
in welchem der drei Schlösser sie sitzt.
    Was träumt sie? Jedenfalls sind es
Träume, die Schwester Antonia fremd sind, die vielleicht eine Mona Lisa
nachempfinden könnte, wäre sie mit den Vorbedingungen vertraut. Sie träumt
vielleicht von Bothwell , den sie liebt, aber nicht so
liebt, daß sie nicht auch ihn umbringen würde, wenn sie ihn nicht mehr liebt.
Dazwischen schlägt sie einen Akkord an, sagen wir: a-h-d-cis - und die Gedanken
schweifen weiter: wer wird dann sein Mörder sein? Ein zukünftiger Gemahl? — g-fis-c-g — es müßte in aller Stille vollzogen werden: am
besten Gift. Aber darauf haben ja diese Protestanten nur gelauert! — gis-a-h-f — nun, es hat noch Zeit, so weit ist es noch
nicht, vorläufig kann sie ohne ihn nicht leben, — g-fis — —
    So sitzt sie da, mit ihren Griffen und
Gedanken, die sie schon in ihrer Kindheit am französischen Hof gelernt hat, und
die meinen Schlaf fördern werden, denn es sind gesühnte Griffe und Gedanken:
nicht umsonst habe ich so weit in die Zeit zurückgreifen müssen. Sie sitzt, in
Mühlsteinkragen, Ärmelpuffen, Wespentaille, in einer Marlotte aus Samt und Brokat, am Busen ein goldenes Kreuz, an dem sie oft in Gedanken
lutscht, eine gestickte Haube auf dem dunklen Haar, das zu ihrem dauernden,
lähmenden Entsetzen bereits beginnt, schütter zu werden, immer schütterer, bis
eines Tages — aber das weiß sie noch nicht, und während sie meiner Schläferung
beiwohnt, weiß sie es nicht mehr — ihre Perücke in den Staub fällt und ihr
Haupt kahlköpfig vom Schafott auf den Boden rollt, von den Henkern mit
gezogenen Baretts und in peinlichem Schweigen bestaunt und laut bekläfft von
ihrem Schoßhündchen, das aus den Röcken des kopflosen Körpers hervorhüpft, in
die es sich während der Hinrichtung verbissen hat. Aber auch das kümmert mich nicht
mehr. Auch Schwester Antonia wäre, nähme man sie hüllenlos — wie Gott sie
geschaffen hat, wenn auch nicht wie er sie hat wachsen lassen - kahl. Dafür hat
die Gioconda glattes, weiches Haar, morbido . — Diese
drei Figuren sind es denn also, die in den Fenstern sitzen, heute nacht. Aus
diesen drei Körpern habe ich mir den Geist gebaut, der meinen Raum beherrschen
soll. Ruhig liege ich im Schöße dieses Geistes, dem
ich mich schlafsuchend anvertraut habe. Und wenn auch Schwachsinn und Mord in
ihm verwoben sind, so atmet er dennoch nicht den widerlichen Atem jener Mörder
und Schwachsinnigen, deren Gegenwart mich dazu bewegt, in meiner Gitarre den
langen Schlaf zu tun. Ich liege im süßen Holz der Gitarre, im dunklen Raum, im
Resonanzkörper, in guter, gesunder Trockenheit, in der Nacht, entspannt,
hingestreckt, mit dem Körper
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher