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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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Rundungen nachfahrend, wie ein großes waagrechtes
S, das Gefäß am tiefsten, als sinke ich vom Mittelpunkt der Erde angesogen
diesem Mittelpunkt rücklings zu, hingegeben meinem eigenen angeschlagenen
Klang, auf den ich die Saiten gestimmt habe. Und wenn ich den Griff nicht mehr
zu fassen bekomme, wenn meine Hand außen am Dach entlang zurücksinkt, dann
werden zwei meiner drei Wächterinnen auf ihren Instrumenten präludierend das Wechselspiel aufnehmen, bis ich schlafe, und darüber hinaus, während die
dritte, durch nichts abgelenkt als durch ihren Gott, der nicht der meine ist,
meinen Schlaf bewacht, über ihn hinaus wacht und stopft, immer stopft.
    Da liege ich und schlage meinen Akkord
an, warte eine Fermate lang, höre auf das seidige Rauschen der Gioconda, das
gestärkte Knistern Maria Stuarts. Schwester Antonia höre ich nicht, sie stopft.
Im Hause ist es still, nur die Nacht draußen rauscht. Oben die Uhren sind
stehen geblieben. Ich brauche sie nicht, denn was sich hier vollzieht,
vollzieht sich nicht mehr in derZeit . Zeit? Wie
sollte der Morgen aussehen, nach einer solchen Nacht? Soll ich die Saiten
anheben, und aus der Schallrose klettern, mir die Augen reiben und mich im
hellen Raum umsehen, wie einer, der auf dem Mond gelandet ist und feststellt,
daß er der Erde ähnlich ist? Soll ich die Saiten zurückschnellen lassen und
aussteigen, um mich einem Tag gegenüberzusehen, der meine kostbaren
Kombinationen zunichte macht, als hätte ich mir nicht mühevoll eine Nacht
aufgebaut?
    Nein. Hier liege ich, hier bleibe ich.
Hier schlage ich meinen Akkord an, bis meine Hand außen am Holz hinabsinkt, und
dann —
    lausche ich, beinah aber noch nicht
ganz im Schlaf, den Akkorden der Wächterinnen, der Dame mit dem leicht
schwachsinnigen Lächeln, deren spitze Fingerkuppen sich zwischen den Griffen
auf das Holz legen, höre das Knacken der Gelenke, wenn die königliche Mörderin
das Griffbrett umspannt, da liegt feine Haut auf feinem Holz. Ich höre einem
Wechselgesang zu, der nicht erklingt, einem nicht gesungenen, kaum erinnerten,
nur vage gedachten Lied, das sich selbst singt. Es singt sich in der
Florentinerin Ferne und in der Ferne der Schottin, und von der Querwand herüber
höre ich das Schweigen der Vincentinerin , wie sie am
Strumpf Gottes stopft.
    Noch einmal, in einem schläfrig-jähen Versuch schlenkert meine Hand über die
Saiten, dann wischt sie an der Außenwand des Instrumentes hinab, über sein
zerbrochenes Holz und bleibt, einmal noch hin und her pendelnd, an ihrem Gelenk
hängen. Die Griffe der Spielerinnen werden leiser, die Fermaten länger, die
Melodie schwingt unhörbar im Zwischenraum. Fast schlafend spiele ich im
beginnenden Traum noch mit, vollziehe im Geist ihre Griffe, da ich meinen einen
jetzt vergessen habe, auf ihm liegt die Nacht. Ich horche, wie die Finger
meiner Wächterinnen, die soeben noch Metallsaiten griffen und vielleicht noch
immer greifen, aber nicht mehr zum Schwingen bringen, sich allmählich, einer
nach dem zögernden anderen, sachte klopfend, dann nur noch tastend auf die
Körper legen, auf das dünne Dach, unter deren einem auch ich, Ohr am Holz,
liege, — höre, wie die Fingerkuppen am Holz haften bleiben, dann, kaum noch auf
dem Holz, kaum über die Fläche streifend, abwärts rutschen, zwischen Saiten und
Holz, dann zwischen Holz und Nacht, und dann in der Nacht für ewig
hängenbleiben, —
    während
Antonia wacht und ewig Wolle stopft. Ich liege innen, außen wacht Eine und
stopft, zwei Andere schlafen zwei verschiedene Schläfe, —
    und
ich drinnen sinke in meinen eigenen Schlaf und schlafe —
    unter
den süßen Saiten
    im
verwunderten Holz.

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