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Liebeskind

Liebeskind

Titel: Liebeskind
Autoren: C Westendorf
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der als Erster in der Reihe stand. Elsa suchte seinen Blick. Bevor er dem ihren auswich, grinste er verlegen. Rainer, der sich gerade noch in Torstens Windschatten aufgehalten hatte, trat nun hervor und begann unter Gejohle der anderen, einen blauen Stoff, gerade so wie ein Lasso, über seinem Kopf herumzuschwenken. Eine weitere Salve hämischen Gelächters prasselte auf Elsa ein. Sie war nicht mehr in der Lage, einzelne Stimmen herauszuhören, vielmehr erschien ihr das Ganze wie ein großes infernalisches Geheul. Doch eines hatten diese Stimmen gemeinsam. Sie alle lachten über Elsa. Lachten in der Gewissheit, dass ihnen ein köstlicher Spaß gelungen war. Ein Spaß, von dem sie einander noch lange erzählen konnten, und jeder, der nicht dabei gewesen war, würde sich für alle Zeiten deswegen ärgern.
    Elsa sah an sich hinunter, und danach konnte sie sich nicht mehr rühren. Das Ding, das Rainer die ganze Zeit zur Begeisterung der anderen in der Luft herumgeschwenkt hatte, waren ihre Jeans gewesen. Und ihre hellblaue Unterhose mit dem zartlila Schmetterling vorn drauf trug Rainer jetzt wie eine Mütze auf seinem Kopf. Einen Teil des Gummibandes, das sich vom vielen Waschen und Tragen aus dem Bund der Unterhose gelöst hatte, verwendete er, um so zu tun, als wäre es sein langes Haar, das er sich aus seiner Stirn streichen musste. Dazu stolzierte er über den Vorplatz wie ein Gockel auf der Suche nach einem fügsamen Huhn. Die anderen johlten und beklatschten Rainers Bemühungen, während sich Elsa an einen anderen Ort wünschte, weit fort von hier. Doch der Unsichtbarkeitszauber aus Kindertagen funktionierte nicht mehr. „Seht euch an, wie rot sie ist!“, hörte sie stattdessen Doreen kreischen. Und Torsten, ihr Torsten, mit dem sie gerade eben noch alles hatte teilen wollen, stand dabei und sagte kein Wort, um Elsa zu retten.
    Elsa fühlte sich auf einmal wie die Attraktion eines Kuriositätenkabinetts, das zur Schau gestellt wurde.
    Sie war das Mädchen mit dem Feuermal, das von neugierigen Augen angestarrt wurde, während sie allein auf der hölzernen Bühne eines Jahrmarktes stand. Aber nein, Elsa war ja gar nicht mehr allein, denn neben ihr hielt sie Torsten, ihr Gefährte, der Elefantenmensch, im Arm. Mit seinem von großflächigen Hautwucherungen entstellten Gesicht war er die männliche Attraktion des Kuriositätenkabinetts.
    Kein Zweifel: Sie beide waren das auf bunten Plakaten angekündigte „außergewöhnlichste Liebespaar des Jahres“.
    Das Mädchen mit dem Feuermal und der Elefantenmensch.
    Paula spazierte auf einem schmalen Feldweg durch die Lüneburger Heide immer vor Anna her. Wo aber war Henry bloß? Schließlich hatten die beiden den Hund doch sonst immer auf ihren ausgedehnten Wanderungen mit dabei gehabt. Anna hörte Paula plappern, unablässig erzählte sie von ihrem neuen Freund, den sie auf einer Party in Hamburg, bei einem befreundeten Fotografen in der Speicherstadt, kennen gelernt hatte. Zu gern hätte Anna etwas entgegnet, doch irgendwie war ihr auf einmal ihr Mund abhandengekommen. Dort, wo er sich normalerweise befand, war nicht mehr als eine schmale Hautfalte, die sich nicht mehr öffnen ließ. Daher versuchte Anna, Paula einzuholen, um sie auf ihr Problem aufmerksam zu machen. Eigentlich eine Kleinigkeit, denn Paula wanderte schließlich nur ein paar Schritte weit von ihr entfernt den Weg entlang. Doch je schneller Anna ging, desto mehr vergrößerte sich der Abstand zu ihrer Freundin. Anna rief verzweifelt nach Paula, schrie, dass sie endlich stehen bleiben sollte. Aber Paula konnte ihren Hilferuf ja nicht hören. Deshalb nahm sich Anna einen Stein vom Boden auf und bewarf damit den Rücken ihrer Freundin. Doch als diese sich nun endlich umdrehte, blickte Anna nicht in Paulas vertrautes Gesicht, sondern in die kühlen Augen von Elsa Hollstein.

    Anna schrie auf. Sie atmete schwer und beruhigte sich erst wieder, als sie merkte, dass sie nur geträumt hatte. Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand wie immer ein Glas mit Wasser. Sie trank es in einem Zug leer und schmiegte sich erneut in ihre Kissen.
    Jetzt sah Anna eine Winterlandschaft mit einem See vor sich, dessen zugefrorene Eisfläche in der Sonne blitzte. Nun bemerkte sie auch, dass sie Schlittschuhe an ihren Füßen trug, und machte sich auf, um ein paar Runden zu drehen. Es war wunderbar, endlich einmal nur das zu tun, was sie tun wollte. Plötzlich spürte Anna eine Hand in ihrem Rücken, und als sie sich umdrehte, sah
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