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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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er wieder nach Hause.
    Sobald ich aus der Schule zurück war, machte ich mich daran, das Essen für meinen Vater fertigzumachen. Ich briet zwei Scheiben Hackbraten auf und tat viel Ketchup dazu. Ich füllte seine Thermosflasche mit starkem schwarzen Tee. Ich legte etwas Kleiebrot mit Marmelade dazu, oder vielleicht auch ein großes Stück selbstgebackenen Kuchen. Manchmal buk ich am Samstag einen Kuchen, manchmal tat es meine Mutter, obwohl ihre Backkunst allmählich unzuverlässig wurde.
    Etwas war über uns gekommen, noch unerwarteter, dazu noch schwerwiegender als der Verlust des Einkommens, obwohl wir das noch nicht wussten. Es war der frühe Ausbruch der Parkinsonschen Krankheit, die sich bei meiner Mutter zeigte, als sie Mitte vierzig war.
    Anfangs war es nicht allzu schlimm. Die Pupillen ihrer Augen wanderten nur selten nach oben, um in ihrem Kopf zu verschwinden, und der getrocknete Schaum um ihren Mund von übermäßigem Speichelfluss war noch kaum zu sehen. Sie konnte sich morgens mit etwas Hilfe anziehen und gelegentlich Arbeiten im Haus verrichten. Sie hielt erstaunlich lange an einem Rest ihrer Kraft fest.
    Man sollte meinen, dass das einfach zu viel war. Das Geschäft ruiniert, die Gesundheit meiner Mutter im Schwinden begriffen. In Romanen oder Erzählungen ginge das nicht. Aber das Seltsame ist, dass diese Zeit in meiner Erinnerung keine unglückliche ist. Im Haus herrschte keine besonders verzweifelte Stimmung. Vielleicht war uns damals nicht klar, dass es meiner Mutter nie mehr besser gehen würde, nur immer schlechter. Und mein Vater hatte viel Kraft und sollte sie noch lange behalten. Er mochte die Männer, mit denen er in der Gießerei arbeitete, überwiegend Männer wie er selbst, die einen Rückschlag erlitten hatten oder eine schwere Last im Leben tragen mussten. Er mochte die herausfordernde Arbeit, die er zusätzlich zu seiner Arbeit als Wachmann der Abendschicht tat. Er musste dabei geschmolzenes Metall in Formen gießen. Die Gießerei stellte altmodische Öfen her, die in die ganze Welt verkauft wurden. Es war eine gefährliche Arbeit, man musste eben auf sich aufpassen, wie mein Vater sagte. Und sie wurde anständig bezahlt – etwas ganz Neues für ihn.
    Sobald er fort war, machte ich mich an das Abendessen. Ich konnte Gerichte zubereiten, die ich exotisch fand, wie Spaghetti oder Omeletts, solange sie nur billig waren. Und nach dem Abwasch – meine Schwester musste abtrocknen, mein Bruder wurde dazu verdonnert, das Spülwasser auf die dunkle Wiese zu schütten (ich hätte das selbst tun können, aber ich gab gern Befehle) – setzte ich mich hin mit den Füßen im warmen Backofen, der keine Tür mehr hatte, und las die großen Romane, die ich mir aus der Stadtbücherei auslieh:
Unabhängige Menschen
, über das Leben in Island, weitaus härter als unseres, aber von hoffnungsloser Großartigkeit, oder
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
, wobei ich nicht die geringste Ahnung hatte, worum es ging, was aber kein Grund war, die Lektüre aufzugeben, oder
Der Zauberberg
, über Tuberkulose und mit einem großen Streitgespräch zwischen einer, wie es schien, menschenfreundlichen und fortschrittsgläubigen Vorstellung vom Leben auf der einen Seite und einer dunklen und irgendwie faszinierenden Verzweiflung auf der anderen. In dieser kostbaren Zeit erledigte ich nie meine Hausaufgaben, aber wenn die Prüfungen nahten, setzte ich mich nächtelang auf den Hosenboden und stopfte mir alles in den Kopf, was ich angeblich wissen sollte. Ich hatte ein phantastisches Kurzzeitgedächtnis, was mir für das Erforderte gute Dienste leistete.
    Trotz aller Widrigkeiten hielt ich mich für einen glücklichen Menschen.
    Manchmal unterhielt meine Mutter sich mit mir, erzählte von früher. Ich hatte jetzt selten Einwände gegen ihre Sicht der Dinge.
    Mehrmals erzählte sie mir eine Geschichte, die mit dem Haus zu tun hatte, das jetzt dem Kriegsveteran namens Waitey Streets gehörte – der Mann, der sich darüber wunderte, wie lange ich brauchte, um durch die Schule zu kommen. Die Geschichte war nicht über ihn, sondern über jemanden, der lange vorher in dem Haus gewohnt hatte, eine verrückte alte Frau namens Mrs Netterfield. Mrs Netterfield ließ sich ihre Lebensmittel ins Haus liefern, wie wir alle, nachdem sie sie telefonisch bestellt hatte. Eines Tages, sagte meine Mutter, vergaß der Kaufmann, ihre Butter einzupacken, oder sie hatte vergessen, sie zu bestellen, und als der Botenjunge die
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