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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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am Ende einer langen Straße oder einer Straße, die mir lang vorkam. Wenn ich aus der Grundschule und später aus der Highschool nach Hause lief, lag hinter mir die eigentliche Stadt mit ihrer Geschäftigkeit, ihren Bürgersteigen und den Straßenlaternen gegen die Dunkelheit. Die Stadt endete bei zwei Brücken über den Maitland River: einer schmalen eisernen Brücke, auf der manchmal Autos darüber in Konflikt gerieten, welches zurücksetzen und das andere vorbeilassen musste, und einer hölzernen Fußgängerbrücke, in der manchmal eine Bohle fehlte, so dass man direkt in das helle, rasch dahineilende Wasser hinunterschauen konnte. Mir gefiel das, aber irgendwann ersetzte immer jemand die Bohle.
    Dann kam eine kleine Senke mit zwei baufälligen Häusern, die jedes Frühjahr im Wasser standen, aber trotzdem von Leuten – immer wieder anderen – bewohnt wurden. Und dann noch eine Brücke, über den Mühlbach, der nicht breit war, aber tief genug, um darin zu ertrinken. Danach teilte sich die Straße, ein Teil führte nach Süden einen Hügel hinauf und wieder über den Fluss, um zu einer veritablen Fernstraße zu werden, und der andere zuckelte um das alte Rummelplatzgelände herum nach Westen.
    Diese Straße nach Westen war meine.
    Es gab auch eine Straße, die nach Norden führte, mit einem kurzen, richtigen Bürgersteig und mehreren Häusern, die dicht beieinanderstanden, als wären sie in der Stadt. Eines davon hatte ein Schild mit der Aufschrift »Salada-Tee« im Fenster, ein Beweis dafür, dass hier einmal Lebensmittel verkauft worden waren. Dann stand da eine Schule, in der ich zwei Jahre meines Lebens zubrachte, und die ich nie wiedersehen wollte. Nach diesen beiden Jahren hatte meine Mutter meinen Vater gezwungen, einen alten Schuppen in der Stadt zu kaufen, damit wir in der Stadt Steuern bezahlten und ich auf die städtische Schule gehen konnte. Wie sich herausstellte, hätte sie das nicht zu tun brauchen, denn in dem Jahr, genau in dem Monat, in dem für mich die Schule in der Stadt anfing, wurde Deutschland der Krieg erklärt, und wie durch Zauberei war es in der alten Schule, der Schule, in der Rabauken mir mein Essen weggenommen und mir gedroht hatten, mich zu verprügeln, und in der inmitten des Lärms niemand etwas lernen konnte, ruhig geworden. Bald gab es nur noch ein Klassenzimmer und einen Lehrer, der wahrscheinlich in den Ferien nicht einmal die Türen abschloss. Dieselben Jungen, die mir immer die rhetorische, aber bedrohliche Frage gestellt hatten, ob ich ficken wollte, waren jetzt genauso wild darauf, Geld zu verdienen, wie ihre älteren Brüder wild darauf waren, zum Militär zu gehen.
    Ich weiß nicht, ob die Schultoiletten dann besser waren, aber damals waren sie das Schlimmste. Bei uns zu Hause gingen wir zwar auch auf ein Klohäuschen, aber es war sauber und hatte sogar Linoleumfußboden. In dieser Schule, ob nun aus Verachtung oder was immer, machte sich niemand die Mühe, das Loch zu treffen. In vieler Hinsicht war es für mich in der Stadt auch nicht einfach, denn alle anderen waren schon seit der ersten Klasse zusammen, und es gab viele Dinge, die ich noch nicht gelernt hatte, aber es war eine Wohltat, die sauberen Toilettensitze der neuen Schule zu sehen und das vornehme städtische Geräusch der Wasserspülung zu hören.
    In meiner Zeit auf der ersten Schule fand ich immerhin eine Freundin. Ein Mädchen, das ich Diane nennen will, kam während meines zweiten Jahres dazu. Sie war ungefähr in meinem Alter, und sie wohnte in einem der Häuser mit Bürgersteig. Sie fragte mich eines Tages, ob ich den schottischen Highland-Fling tanzen könne, und als ich nein sagte, bot sie an, ihn mir beizubringen. Also gingen wir nach der Schule zu ihr. Ihre Mutter war gestorben, und sie war zu ihren Großeltern gekommen. Um den Highland-Fling zu tanzen, erzählte sie mir, brauchte man mit Eisen beschlagene Schuhe, die sie hatte und ich natürlich nicht, aber unsere Füße hatten etwa dieselbe Größe, also tauschten wir die Schuhe, während sie versuchte, mir den Tanz beizubringen. Schließlich bekamen wir Durst, und ihre Großmutter gab uns Wasser zu trinken, aber es war scheußliches Wasser aus einem gegrabenen Brunnen, genau wie in der Schule. Ich erzählte ihr von dem vorzüglichen Wasser bei uns zu Hause aus einem gebohrten Brunnen, und die Großmutter, ohne im mindesten gekränkt zu sein, sagte, sie wünschte, sie hätte auch so einen.
    Aber dann, nur zu bald, war meine Mutter draußen,
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