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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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Scheune ging und mich bei meinem Vater verpetzte. Dann musste er seine Arbeit unterbrechen und mir mit seinem Gürtel den Hintern versohlen. (Das war zu jener Zeit keine unübliche Bestrafung.) Hinterher lag ich weinend im Bett und schmiedete Pläne, von zu Hause wegzulaufen. Aber diese Phase ging auch vorbei, und nach meinem zehnten Geburtstag wurde ich verträglicher und sogar lustig, bekannt für meine drolligen Berichte über Dinge, die ich in der Stadt gehört hatte oder die in der Schule vorgefallen waren.
    Unser Haus war von passabler Größe. Wir wussten nicht genau, wann es erbaut worden war, aber es konnte noch keine hundert Jahre alt sein, denn 1858 war das Jahr, in dem der erste Siedler bei einem Ort namens Bodmin – der inzwischen verschwunden war – haltgemacht und sich ein Floß gebaut hatte, dann flussabwärts gefahren war und eine Stelle gerodet hatte, an der später ein Dorf entstand. Dieses erste Dorf hatte bald eine Sägemühle, einen Gasthof, drei Kirchen und eine Schule, dieselbe Schule, die meine erste war und die ich so fürchtete. Dann wurde eine Brücke über den Fluss gebaut, und es begann den Leuten zu dämmern, dass es viel bequemer wäre, auf der anderen Seite zu wohnen, auf höherem Grund, und die ursprüngliche Siedlung schrumpfte zusammen auf das verrufene und dann nur noch sonderbare Restdorf, das ich schon erwähnt habe.
    Unser Haus kann keines dieser allerersten Häuser in der frühen Siedlung gewesen sein, denn es war mit Ziegeln verkleidet, während die anderen ganz aus Holz bestanden, aber wahrscheinlich wurde es nicht viel später errichtet. Es kehrte dem Dorf den Rücken zu und blickte nach Westen über leicht abfallende Felder zu der verborgenen Biegung des Flusses, die Big Bend hieß. Jenseits des Flusses war ein Gehölz aus dunklen Nadelbäumen, wahrscheinlich Zedern, aber zu weit weg, um sie zu erkennen. Und noch weiter weg, auf einer Anhöhe und unserem gegenüber, stand ein Haus, sehr klein in dieser Entfernung, das wir nie besuchen oder kennenlernen würden und das für mich wie ein Zwergenhaus in einem Märchen war. Aber wir kannten den Namen des Mannes, der dort wohnte oder einst dort wohnte, denn er wird mittlerweile tot sein. Roly Grain war sein Name, und er spielt weiter keine Rolle in dem, was ich hier schreibe, trotz seines Trollnamens, denn dies ist keine Geschichte, nur das Leben.
     
     
    Meine Mutter hatte zwei Fehlgeburten, bevor sie mich bekam, deshalb muss, als ich 1931 geboren wurde, einige Zufriedenheit geherrscht haben. Aber die Zeiten wurden immer weniger aussichtsreich. Tatsächlich war mein Vater ein bisschen zu spät ins Pelzgeschäft eingestiegen. Der Erfolg, den er sich erhoffte, wäre Mitte der zwanziger Jahre wahrscheinlicher gewesen, als Pelze in Mode kamen und die Leute Geld hatten. Aber da hatte er noch nicht angefangen. Trotzdem überlebten wir, bis zum Krieg und den Krieg hindurch, und kurz nach seinem Ende musste es sogar eine ermutigende Belebung gegeben haben, denn das war der Sommer, in dem mein Vater das Haus renovierte und die alten Ziegel mit brauner Farbe überstrich. Es gab ein Problem damit, wie die Ziegel mit den Brettern verfugt waren; sie hielten die Kälte nicht so gut ab, wie sie sollten. Man war der Meinung, dass ein Anstrich helfen würde, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, dass er es je tat. Außerdem bekamen wir ein Badezimmer, der unbenutzte Speisenaufzug wurde zu Küchenregalen, und das große Esszimmer mit der offenen Treppe wurde zu einem normalen Zimmer mit einer davon abgetrennten Treppe. Diese Umbauten taten mir auf unbestimmte Art wohl, denn in dem alten Zimmer hatte mein Vater mich immer versohlt, bis ich vor Elend und Scham am liebsten gestorben wäre. Jetzt machte die veränderte Umgebung es schwer, sich so etwas überhaupt vorzustellen. Ich war in der Highschool und wurde jedes Jahr besser, da solche Tätigkeiten wie Hohlsaumstickerei und Schönschreiben wegfielen, Heimatkunde zu Geschichte wurde und man Latein lernen konnte.
    Nach dem Optimismus dieses Sommers schlief unser Geschäft jedoch wieder ein, und diesmal erholte es sich nie mehr. Mein Vater zog sämtlichen Füchsen das Fell ab, dann den Nerzen, und bekam erschreckend wenig Geld für die Pelze, dann arbeitete er tagsüber daran, die Käfige und Gehege abzureißen, in denen das Unternehmen geboren worden und gestorben war, bevor er sich auf den Weg machte, um die Fünf-Uhr-Wache in der Gießerei zu übernehmen. Erst gegen Mitternacht kam
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