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Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Titel: Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Autoren: Sebastian Schloesser
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der Regel von halb zehn bis halb drei. Ich schaue den Jungs gern zu. Die meiste Zeit verbringen wir mit Textarbeit. Dabei hilft Otto, unser kolossaler Souffleur. Seine eigentliche Aufgabe ist es, während der Aufführung den Text mitzulesen und schnell das richtige Stichwort zuzuflüstern, wenn ein Schauspieler hängenbleibt. Gute Souffleure können aber auch schon im Vorfeld wichtig sein, eben wenn es darum geht, den Text vernünftig zu lernen. Eigentlich sollten die Schauspieler das zu Hause tun, aber viele sind faul und nutzen dafür die Proben. Es gibt Regisseure, die deswegen richtig durchdrehen. Frisch war so einer. Der hat die Faulen dann nach Hause geschickt und mit den Fleißigen weitergeprobt und sich wahnsinnig geärgert.
    Ich bin nicht so rigoros. Den Text gesprochen zu hören ist eben etwas anderes, als ihn sich allein anzueignen. Unter Umständen lernt man auch gemeinsam schneller. Außerdem komme ich beim Zuhören auf Ideen, die wir dann gleich ausprobieren können. Ob diese Art zu inszenieren tatsächlich funktioniert, bin ich mir allerdings nicht sicher. Immer noch nicht. Oder nicht mehr. Ich komme mir vor, als würde ich zum ersten Mal inszenieren. Aber ich bin nicht mehr so aufgeregt. Das ist auch der Grund, warum ich mich sehr auf zu Hause freue. Auf Dich. Weil ich jetzt wieder so sein kann, wie ich es von mir selbst wünsche. Vielleicht bin ich noch ein bisschen zögerlich und blass. Dafür langmütig und wohlwollend. So wie man es sein muss mit einem so lebhaften Jungen wie Dir. Sachen erklären, statt wütend einzufordern.
    So ist es bei der Arbeit auch. Ich sehe den beiden Schauspielern zu. Lasse ganze Passagen durchspielen, damit sie ein Gefühl für die einzelnen Stationen des Stückes bekommen. Hinterher kann ich ihnen ganz ruhig erklären, was ich gut fand und was nicht.
    So. Jetzt gehe ich mit Sonya ins Kino. Machen wir jeden Abend. Am Montag haben wir bereits alle Filme gesehen und müssen bis Donnerstag warten, bis die neuen anlaufen. Macht auch nichts. Ich lese wieder mit großer Neugier.
    Ich frage mich ernsthaft, was passiert wäre, wenn die Arbeit früher schon so entspannt abgelaufen wäre. Gesünder wäre es gewesen. Aber wäre ich dann überhaupt so weit gekommen?
    Oder noch schneller nach unten durchgereicht worden?
    Ich weiß es nicht.
    Trotz oder vielleicht wegen des allgemeinen Wohlfühlprogramms hier in Mainz neige ich dazu, die vergangenen Arbeiten zu glorifizieren. Obwohl ich dabei war, finde ich keine befriedigende Erklärung dafür, warum sie mir gelungen sind.
    Zumindest scheint die verdammte Gleichgültigkeit der letzten Zeit ein Stück weit überwunden. Das ist schon mal eine Erleichterung. Aber ob dieser Anflug von Selbstzufriedenheit gut für das Gelingen der Veranstaltung ist, möchte ich stark bezweifeln. Um etwas zu ändern, fehlt mir jedoch der Antrieb. Zu mehr Elan kann ich mich einfach nicht aufraffen. Nur das Nötigste tun. Das bin ich.
    Die möglichen Konsequenzen außer Acht lassen.
    Bin ich auch.
    Ich drehe mich im Kreis. Das habe ich Dir doch schon tausendmal geschrieben, oder?
    Langsam fürchte ich mich richtig vor dem Moment, wenn Du die Briefe wirklich liest.
    Du musst mich für einen weinerlichen Versager halten.
    Schluss damit. Ich reiße mich zusammen.
    Basta.

hier hat es heute geschneit. Ich glaube, bei Euch noch nicht, und das ist gut so, denn ich hoffe sehr, mit Dir rodeln gehen zu können, sobald ich wieder in Hamburg bin. Das letzte Mal sind wir gerodelt, als Du gerade mal zwei Jahre alt warst. Bei Omi Frauke um die Ecke. War ziemlich steil. Ich hatte Dich einfach auf den Schlitten gepackt und bin mit Dir losgesaust. Schon nach einer Fahrt auf meinem Schoß hattest Du zu viel Respekt, um weiterzumachen. Dir war das eindeutig zu schnell gewesen. Du hast immer schon alles in Deinem Tempo gemacht. Vor allem die riskanten Sachen. Bei aller Lebendigkeit bist Du eines ganz bestimmt nicht: leichtsinnig. Du möchtest die Kontrolle behalten. Das ist gut so, und das unterscheidet uns schon mal ganz grundsätzlich. Ich habe mir immer die größte Mühe gemacht, die Kontrolle zu verlieren. Zumindest für eine kurze Zeit. Solange die Drogen eben wirkten. Ich habe damit sehr viel experimentiert. Wie weit kann ich die Selbstkontrolle abgeben? Und für wie lang? Wie reagiert das Umfeld, und wie lange halte ich das dann aus? Für so ein Verhalten gibt es viele missverständliche Begriffe. Rock ’n’ Roll, jugendlicher Leichtsinn oder eben Freiheit. Dabei
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