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Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Titel: Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Autoren: Sebastian Schloesser
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ich auch getan. Ich bin zwar nicht an die Grenzen der Erde gestoßen, aber an meine Grenzen. Und an Mamis und Deine. Nur dass ich das zuerst gar nicht gemerkt habe. So, wie wenn Du Geburtstag hast, und Du hast alle Deine Freunde zu Besuch, und es gibt den ganzen Tag nur Süßes, und abends siehst Du sogar noch einen Film. Dann willst Du unbedingt, dass es immer so weitergeht. Mehr Geschenke. Mehr Freunde. Mehr Süßes. Mehr Spaß. Und auf einmal werden die Freunde abgeholt, und Du sollst ins Bett! Aber Du bist noch gar nicht müde. Ehrlich nicht! Ganz im Gegenteil. Der Tag soll niemals aufhören. Du kannst nicht verstehen, dass nun alles vorbei sein soll. So ein Gefühl hat man nur, wenn man noch ein Kind ist. Wenn man älter wird, freut man sich zwar noch, aber es fühlt sich nicht mehr so stark an. Die Erwachsenen sagen, sie haben ihre Gefühle im Griff. Das stimmt. Im Würgegriff. Weil sie es gar nicht mehr aushalten würden, so wie die Kinder zu fühlen.
    So. Eines Tages vor vier Monaten, kurz nach Deinem Geburtstag, bin ich aufgewacht und habe wieder so starke Gefühle gehabt. Das war toll und hat sich erst mal ganz wunderbar angefühlt, wie ein Zaubertrank.
    Ja, so war das. Ich muss jetzt Schluss machen. Es ist Zeit für die Medizin. Hier im Krankenhaus gibt es einen langen Flur, von dem die Zimmer abgehen. Meistens Zweierzimmer. In der Mitte des Flurs befindet sich ein Extrazimmer für die Ärzte und Pfleger und Schwestern. Um Punkt acht Uhr abends gibt es dort für alle die Medizin. Da muss ich jetzt hin. Ich schreibe wieder. Versprochen.
    Ich hab Dich lieb.

heute fällt mir alles schwer. Ich bin so unzufrieden. Möchte gar nicht hier sein. Alles nervt mich. Vor allem die anderen Patienten mit ihren Meisen. Andere Meisen. Nicht bipolar, sondern monopolar, depressiv oder schizophren. Sicherlich kennst Du die Schimpfwörter »schizo« und »depri«? Vielleicht bist Du dafür aber auch noch zu jung. Schizophrene hören oft Stimmen und sind davon überzeugt, verfolgt zu werden. Aber das stimmt nicht. Dieser Verfolgungswahn macht ihnen große Angst. Wenn Du vor dem Imperator in Star Wars Angst hast, ist das allerdings etwas ganz anderes. Bei Dir geht die Angst von allein wieder weg. Und falls Du doch in der Nacht aufwachst, dann lässt Du Dich von uns trösten. Schizophrene aber lassen sich gar nicht oder nur sehr schwer beruhigen, und vor lauter Angst und Argwohn nehmen sie auch die Tabletten gegen die Angst nicht. Sie leben in andauernder Angst. Permanent. Sind in ihr gefangen.
    Wie die ältere Frau hier, die aussieht wie meine Physiklehrerin aus dem Gymnasium. Sie meint, man würde sie vergiften wollen. Alle steckten unter einer Decke. Die Ärzte, die Pfleger, die Schwestern und natürlich auch wir anderen Patienten. Wir hören angeblich alle auf die Anweisungen ihres Mannes, der sie aus dem Weg räumen will, um an ihr Geld zu kommen. Tatsächlich kommt der Mann sie alle zwei Tage besuchen und geht mit ihr in der Cafeteria Kaffee trinken. Er wirkt traurig und versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie sieht stur geradeaus. Ich weiß nicht, wer mehr Hilfe braucht. Wenn sie in der Raucherecke vor sich hin quasselt, muss ich manchmal lachen, und dann guckt sie mich ganz böse an. Sie hat aber auch schon mitgelacht – so, wie wenn man jemanden beim Schwindeln erwischt.
    Die Depressiven sind auf ihre Art noch anstrengender. Sie sind wahnsinnig langsam und zögerlich und fühlen gar nichts mehr. Als hätte man den Stöpsel aus ihrem Herz herausgezogen. Das, was zurückbleibt, ist nur ein wabbeliges lauwarmes Gefäß ohne Inhalt. Wie eine Wärmflasche am nächsten Morgen. Die Depressiven hocken den ganzen Tag auf unserem Flur herum und warten. Warten auf die Ärzte, die morgens zur Kontrolle vorbeikommen. Dann wird der Blutdruck gemessen, kurz gefragt, ob es gerade Schmerzen oder Probleme gibt. Nein? Das ist ja prima. Elendsverwaltung ist das. An den Vormittagen dünnt es sich auf der Station etwas aus, weil die meisten irgendwelche Gruppen haben. Bewegungsgruppe, Entspannungsgruppe oder Bastelgruppe zum Beispiel.
    Ich gehe lieber spazieren. Im Park oder auf dem riesigen Klinikgelände. Dann gibt’s auch schon Mittagessen, Mittagsfraß möchte ich sagen. Zwei große Servierwagen werden auf die Station geschoben, mit vielen Tabletts, auf denen Teller stehen, die abgedeckt sind, damit die Hitze nicht entweicht. Was aber entweicht, ist ein grauenhafter Gestank: der Geruch von zerkochtem Gemüse, oft von Blumenkohl. Dazu
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