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Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Titel: Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Autoren: Sebastian Schloesser
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kleines Erdloch. Mein Rückzugsraum, wenn ich mal die Nase voll hatte. Vorhänge zu. Ausschlafen. Mit einer Tankstelle gegenüber. Sehr praktisch.
    Übernächste Woche soll ich also nach Essen. Wieder arbeiten. Jetzt, wo ich hier im Aufenthaltsraum sitze und Dir schreibe, kann ich mir das noch gar nicht vorstellen. Hoffentlich hat in Essen keiner mitbekommen, dass ich hier in Wolkenkuckucksheim war. Bin. Denn ich sitze schließlich noch mitten unter lauter Verhinderten. Unter Meisenprofis, die von ihrer Meise daran gehindert werden, das zu tun, was sie tun wollen. Oder das, was andere von ihnen erwarten. Ich spüre auch noch nichts. Keine große Veränderung. Ich kann wieder gut schlafen, dank der Schlaftabletten. Die hätte ich früher gebraucht. Dann hätte ich nicht so wahnsinnig viel saufen müssen. Ich habe vor allem so viel getrunken, um meine Gedanken endlich einmal abzustellen. Das kann man auch auf andere Weise tun, wirst Du jetzt sagen. Mit Sport zum Beispiel. Stimmt. Aber dafür muss man sehr diszipliniert sein. Außerdem ist das auch nicht so gesellig. Wenn man in einer fremden Stadt ist, kann man sich sehr schnell allein fühlen. Weil man niemanden kennt, außer den Leuten, mit denen man an einem Stück arbeitet. Und da man nichts anderes zu tun hat und weil es von einem erwartet wird, schaut man sich abends die Schauspieler, die bei einem mitspielen, noch in anderen Inszenierungen an. Dabei fällt es mir nicht leicht, die Arbeit von anderen Regisseuren zu sehen. Das meiste finde ich grauenhaft. Vielleicht geht es darum, sein Revier zu markieren, wie bei Hunden. Vielleicht mag ich es einfach nicht, dass schon andere da waren und mit »meinen« Schauspielern gearbeitet haben. Eifersucht. Wie auf dem Spielplatz in der Sandkiste. Die Burgen der anderen werden immer zerstört. Vielleicht redet man auch die Arbeit der anderen schlecht, um selbst etwas schaffen zu können. Weil man Energie daraus ziehen kann. Das, was die können, kann ich längst. Pah! Und dafür wurde der so hoch gelobt? Klingt total bescheuert. Jedenfalls möchte ich auf keinen Fall meine Energie verlieren, egal, wo sie herkommt. Wie soll das gehen – inszenieren ohne Energie? Wenn du keine Energie mehr hast, verwandeln sich deine Kollegen und die, mit denen du an einem Stück arbeitest, in deine Feinde und fallen über dich her.
    Aber noch ist genug Energie da. Noch kann ich dagegenhalten. Nur, wie lange noch? Wird es für die Gebrüder Löwenherz reichen? Was passiert, wenn ich erst mal eine Arbeit absagen muss? Das spricht sich ruck, zuck rum, und dann bin ich erledigt und bekomme nie wieder einen guten Auftrag. O Mann. Das macht mir Angst.
    Ich gehe schnell ein paar Zigaretten rauchen.
    Bis später.

jetzt bin ich doch wieder total vom Thema abgekommen. Aber so geht das den ganzen Tag. Ich denke gerade über etwas nach, und dann kommen auf einmal neue Gedanken dazwischen. Und wieder neue, und am Ende habe ich völlig vergessen, worüber ich ursprünglich nachdenken wollte.
    Ich wollte Dir von den anderen erzählen. Von meinem Zimmernachbar zum Beispiel. Wolfgang ist Mitte fünfzig und ein richtiger Meisenprofi. Er kommt einmal im Jahr in die Klinik – weil er sich hier sicher fühlt, sagt er. Er versteht nicht, dass ich mich hier eingesperrt fühle. Das kann ich an seinem fragenden und mitleidigen Blick erkennen.
    Ich könnte mir vorstellen, dass Petra Dich genauso ansieht, wenn Ihr Euch im Treppenhaus begegnet. »Ach, der arme Matz! Der Papa ist ja jetzt in der Klapse.« Genau diese fragenden und mitleidigen Blicke haben mich hier reingetrieben. Ich habe das nicht mehr ausgehalten. Die Leute sorgen sich wirklich, ich weiß. Aber es tut mir weh. Wenn man einen Löwen mitleidig ansieht, weil er von der Natur gezwungen ist zu morden, wird auch kein Kaninchen aus ihm. Andererseits: Was ist eigentlich meine Natur? Löwe? Kaninchen? Was bin ich, und was ist die Krankheit? Ich bin dabei, es herauszufinden. Ich möchte allen zurufen, sie sollen sich an ihre eigenen Nasen fassen. Mit ihrer Weltverbesserei bei sich beginnen. Haben doch alle Dreck am Stecken. Aber auf andere zu zeigen ist natürlich einfacher. Auch für mich.
    Wolfgang guckt zumindest ein wenig mehr mit Kennerblick. Schließlich hat er auch schon viele mit so einer wilden Meise wie meiner erlebt.
    Die Gedanken, die mir in den letzten Wochen durch den Kopf gewirbelt sind, kamen mir wahnsinnig schlau vor. So wie die klügsten Gedanken der Philosophen. Das sind Forscher, die
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