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Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Titel: Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Autoren: Sebastian Schloesser
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gar keine Zeit nachzudenken. Deshalb das reflexartige Geplapper. Weil man die Kontrolle behalten muss. Kontrollieren. Es gibt da so einen Spruch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Der Satz stimmt allerdings erst, wenn man schon oft in seinem Vertrauen enttäuscht worden ist. Das ist bei Erwachsenen eben häufig der Fall, und ich hoffe sehr, dass Du diesen Satz nie brauchst. Dass Du vertrauen kannst. Weil es schön ist und frei macht. Ich möchte auch immer frei sein. Und keine Angst haben. Stattdessen habe ich mich hier selbst eingesperrt. Obwohl. Das ist nicht ganz richtig. Versteckt habe ich mich. Vor der Welt und vor mir selbst. Ich brauche Urlaub von mir. Deswegen habe ich mein Handy auch in die Alster geworfen.
    Ich entwickle einen diebischen Ehrgeiz, kleine Frechheiten auf die Tafel zu schreiben. »Herr Schlösser geht jetzt auf dem Klinikgelände flanieren. Wenn er Glück hat, macht er dabei eine positive Entdeckung, oder auch zwei. Er wird pünktlich zum Abendessen zurück sein.« – »Herr Schlösser besorgt sich Rauchwaren für den Eigenbedarf und macht sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut.« – »Herr Schlösser geht im Park spazieren und versucht dabei, Zuversicht auszustrahlen.« – »Herr Schlösser flüchtet sich vor der geballten Schönheit der Station ins Freie.« Was Ironie bedeutet, verstehst Du mittlerweile auch schon. Mich über Dinge lustig zu machen hat mir immer schon oft über Situationen hinweggeholfen, die ich eigentlich zum Weinen fand. Unerträglichkeiten, Schwierigkeiten weglachen. Das hilft.
    Aber ich komme schon wieder vom Thema ab. Das gehört auch zu meiner speziellen Meise. Ich wollte Dir von der riesigen Küche erzählen. Sie ist ungefähr so groß wie die Metro. Man kann, ehrlich gesagt, gar nicht mehr von Küche sprechen. Von Küchenfabrik vielleicht. Oder von Küchentodesstern mit hirnlosen Küchendroiden. Reingelassen haben sie mich leider nicht. Natürlich nicht. Wundert mich eh, dass keine bewaffneten Wachen vor der Tür stehen. Aber das ist es ja auch: Es beschwert sich niemand über den Fraß! Dabei hätte ich den Panschmeistern zu gern einmal erklärt, wie man einen frischen Salat oder Pasta al dente zubereitet. Bissfest. Die schaffen es hier, selbst die einfachsten Gerichte zu versauen. Nicht mal ein Spiegelei kriegen die hin. Dabei ist das kinderleicht. Ich wette, Du könntest diese Herrn Köche heute schon locker unter den Tresen kochen. Wie bei Ratatouille . Erinnerst Du Dich an den Film? Eine Ratte zeigt den Menschen, wie man richtig kocht! Ich werde ganz traurig, wenn ich an den Tag denke, an dem wir diesen Film zusammen gesehen haben. Ich muss übrigens oft an Dich denken, und an Tagen wie heute könnte ich dann nur noch weinen. Tu ich auch meistens. Denn komischerweise geht das jetzt wieder. Ist auch gar nicht schlimm, jahrelang konnte ich gar nicht richtig weinen. Und mich nicht richtig freuen. So, dass es einem in den Magen fährt. Wie dem tauben Mädchen in Deinem Lieblingslied. Sie mag Musik, nur wenn sie laut ist . Das Schwierige ist allerdings, dass die Freude und die Traurigkeit so schnell in den Magen und in das Herz jagen, dass ich gar nicht mehr mitkomme. Es ist auch wahnsinnig anstrengend, das auszuhalten. Ein Gefühl, als würde permanent Strom durch mich hindurchfließen. Die anderen verstehen gar nicht, warum das so schnell geht bei mir. Ich weiß es ja selbst nicht.
    Ich habe einfach Angst, so zu werden wie die anderen Klapsis hier in Wolkenkuckucksheim. Drinnen sitzen und Löcher in die Gegend gucken.
    Das darf nicht sein.
    Dafür will ich kämpfen.
    Bis morgen.

heute will ich Dir von meinen Mithäftlingen, den anderen Meisenprofis, erzählen. Ich habe ja schon geschrieben, dass wir viel Zeit in der Sitzecke mit Rauchen verbringen. Gleich nach meiner Ankunft wurde ich sofort von zwei Frauen freundlich und neugierig in Empfang genommen. Inzwischen ist es fast so, als würden wir uns schon immer kennen.
    Helga ist um die sechzig und hatte einen depressiven Zusammenbruch. Ihr Mann hat sie in die Klinik gebracht. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass sie so große Probleme mit einer traurigen Meise hat. Sie sieht aus, als wäre sie erst vor kurzem von einem längeren Urlaub in der Sonne zurückgekehrt. Aber genau das ist bei den Meisenkrankheiten das Problem. Man kann die Meise nur sehr schwer erkennen. Sie ist gut versteckt. Helga könnte meine Mutter sein, und so verhält sie sich mir gegenüber auch.
    Maria ist Mitte dreißig
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