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Lieber Frühling komm doch bald

Lieber Frühling komm doch bald

Titel: Lieber Frühling komm doch bald
Autoren: Eric Malpass
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er manchmal.»
    Sie sagte: «Sieh mal, der große Baumstamm da - wollen wir den nehmen?»
    Gaylord bemühte sich, eine möglichst gleichgültige Miene zu machen. Warum war er nicht selber darauf gekommen? Wenn sie kein Mädchen wäre, dachte er, könnte man direkt was mit ihr anfangen.
     
    In Ingerby schwang sich Derek Bates auf das blitzende neue Motorrad, das ihm sein Vater, der ihm nichts abschlagen konnte, zum Geburtstag geschenkt hatte. Er gab Gas, zog seinen Schutzhelm zurecht und donnerte davon. Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet! Seine Eltern sahen ihm nach.
    «Der bringt noch wen um», sagte seine Mutter.
    «Na, Hauptsache nicht sich selber», meinte Mr. Bates gelassen.
    Sie gingen wieder in ihr Haus.
    Wendy Thompson, Lehrerin an der Grundschule in Ingerby, saß im Autobus und malte sich aus, wie schön es sein müßte, wenn sie einmal mit ihrem Mini nach Shepherd’s Warning hinausfahren könnte. Die Vorsitzende vom Klub der Literaturfreunde in Ingerby, die ohnehin fand, daß Wendy zuviel Zeit mit ihrer alten Mutter verbrachte, hatte sie ermuntert: «Fahren Sie doch mal nach Shepherd’s Warning und machen Sie mit Jocelyn Pentecost einen Termin für eine Lesung bei uns aus.»
    Aber ihre Mutter ließ sie nie fort. Die alte Mrs. Thompson verfugte über ein beträchtliches Arsenal an Waffen - von dem Vorwurf der Undankbarkeit und Hartherzigkeit bis hin zu Kopfschmerzen und Migräne -, und diese Waffen setzte sie jederzeit rücksichtslos ein, wenn ihre Tochter Wendy, die gutherzig und freundlich war und alles für ihre Mutter tat, einmal ihre eigenen Wege gehen wollte.
    Wendy Thompson schloß die Haustür auf und rief: «Ich bin’s!» Keine Antwort. Ein schlechtes Zeichen! Sie blickte auf ihre Uhr: halb zehn. Nein, sie hatte sich nicht verspätet. Aber es sah ganz so aus, als müsse sie sich auf Vorhaltungen oder beleidigtes Schweigen gefaßt machen. Sie trat ins Wohnzimmer. Ihre Mutter saß wie immer in ihrem Schaukelstuhl. Aber der Schaukelstuhl, der gewöhnlich ungeduldig und zornig auf und ab schaukelte, wenn Wendy von einer abendlichen Unternehmung nach Hause kam, stand still. Wendy trat näher.
    Ihre Mutter war jenseits von Ungeduld und Zorn. Und sie würde nie wieder Kopfschmerzen und Migräne haben. Sie hatte ihre Waffen niedergelegt. Im Schaukelstuhl saß eine tote alte Frau mit herabhängendem Kinn und leblos starrenden Augen - ein armes, klägliches Etwas.
    Was Wendy jetzt tat, war schrecklich und schändlich und unerhört. Aber kein Mensch sah es, und die Engel, die sonst die Torheiten der Menschen bemerken, haben sicherlich die Augen zugemacht. Sie tanzte! Sie pirouettierte auf Zehenspitzen dreimal im Zimmer herum. Dann ließ sie sich aufs Sofa fallen. Und fing an zu weinen.
    Sie hatte ihre Mutter geliebt, und sie hatte sie jetzt verloren. Aber durch ihr Sterben hatte die alte Mrs. Thompson ihr zwei wunderbare Dinge geschenkt: ein eigenes Leben und die weite bunte Welt ringsum. Ein eigenes Leben mit dreißig Jahren! Kein Wunder, daß Wendy Thompson verwirrt war. Ihre Mutter, ihre Lebensgefährtin, hatte sie verlassen. Und sie selber war plötzlich frei. Mit Furcht und Bangen blickte sie auf die Tür ihres Käfigs, die sich plötzlich geöffnet hatte.
     

2
     
    Es war ein langer und schöner Herbst gewesen, aber jetzt nahte unerbittlich der Winter, der nach und nach das Licht und die Wärme verdrängen würde. Noch leuchtete die goldene Herbstsonne. Sie lächelte über Wendy Thompson, die sich noch immer nicht aus ihrem kleinen Haus in die weite bunte Welt hinaus wagte. Jeden Tag nahm sie sich vor, einen kurzen Brief an Mr. Pentecost zu schreiben. Jeden Tag unterließ sie es und beschloß, morgen ganz bestimmt zu ihm hinauszufahren. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, daß sie nun selber über sich und ihre freie Zeit verfügen konnte, und klammerte sich um so mehr an ihren Beruf.
    Der alte John Pentecost hatte in Mackintosh einen Mann nach seinem Herzen gefunden: tüchtig, nüchtern, praktisch, wortkarg. Jocelyn allerdings hatte fast Angst vor dem neuen Verwalter. Ihm war nie recht wohl in Gegenwart so tatkräftiger Männer. Er hatte immer das Gefühl, ein unpraktischer Mensch wie er müsse ihnen wie ein Schwächling Vorkommen. Schon bei der Vorstellung hatte der Schotte ihn irritiert. Opa hatte gesagt: «Das ist mein Sohn Jocelyn.» — «Arbeiten Sie auch auf dem Hof?» hatte Mackintosh höflich gefragt. «Nein», hatte Opa mit leiser Verachtung geantwortet, «er schreibt
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