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Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn

Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn

Titel: Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn
Autoren: Sergio Bambaren
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diamantbesetzte Rolex und einen Anzug, der Tausende gekostet hat, er hat den neuesten Mercedes mit Chauffeur, er hat Bodyguards, und nun leitet er ein Meeting – auf einem Stuhl sitzend, der ein wenig höher ist als die anderen – und ist umgeben von Leuten, die er gekauft hat und die ihm niemals widersprechen würden, selbst wenn er sich irrt.
    Ich versuchte mir auch sein Privatleben vorzustellen: Ganz sicher betrügt er seine Frau, das sieht man schon an den Blicken, die er seiner Sekretärin zuwirft. Seiner Frau ist das wahrscheinlich egal, solange sie im vornehmsten Country Club des Landes verkehren kann, einen Tennistrainer hat (der sie sicherlich nicht nur im Tennis trainiert), in den besten Restaurants essen und mit ihrem Privatjet fliegen kann.
    Das war mein Trick: Ich schloss für einen Moment die Augen, beraubte den Mann im Geiste all der schicken Dinge, mit denen er sich umgab, stellte seinen Stuhl niedriger und tat so, als wären die Zahlen an der Schautafel Teil einer Partie Monopoly. Es klappte immer. Sobald ich die Augen wieder aufmachte, sah ich einen alten Mann, der so einen unglaublich dicken Bauch hatte, dass ich mich wundern musste, wie er so viel Fett in seinen einst schlanken Körper stopfen konnte – einen Körper, den er vermutlich seit Jahren nicht mehr trainiert hatte. Stattdessen hatte ihm jemand einen Chip ins Gehirn gepflanzt, der immer wiederholte: Für Geld kann man alles kaufen. Ein alter, fetter Mann ohne Prinzipien und ohne jeden Anstand, ein Mann, der andere wie Dreck behandelt und glaubt, die Wahrheit und vielleicht auch die Welt gehöre ihm allein.
    Er tat mir leid. Was für ein verschwendetes Leben! Versteht mich nicht falsch, ich urteilte nicht über ihn , sondern über die Gestalt, die sich mit all dieser belanglosen Maskerade umgab, sodass man den Menschen dahinter gar nicht mehr wahrnahm. »Wenn er sich doch nur ab und zu Zeit nehmen würde, an einer Rose zu riechen«, dachte ich.
     
    Wenn dieser Mann dann zu Ende gesprochen hatte, stand ich auf. Ich wusste genau, mit wem ich es zu tun hatte. Ich dankte ihm für seine aufschlussreichen Worte und bat um ein wenig Zeit, damit ich das Projekt neu kalkulieren und gegebenenfalls den Preis senken konnte – das war natürlich nur vorgetäuscht, denn ich kannte unser endgültiges Angebot bereits vor Verhandlungsbeginn. Jedenfalls korrigierte ich ein paar Zahlen und gab einen satten Rabatt auf die ursprüngliche Summe. Als harter Geschäftsmann sagte er mir dann natürlich, dass es immer noch zu teuer sei.
    Ich lächelte und sah ihm in die Augen.
    »Tja, das ist das beste Angebot, das wir Ihnen machen können. Dafür bauen wir Ihnen ein hochmodernes Stahlwerk und können garantieren, dass Ihre Geschäfte künftig sehr profitabel laufen werden. Sie bekommen das derzeit beste Produkt auf dem Markt zu einem sehr moderaten Preis.«
    »Zu teuer! Machen Sie mir ein besseres Angebot!«
    Ich setzte mich nicht wieder an den Tisch. Ich räumte meine Stifte, Taschenrechner und Unterlagen zusammen und bat meine Assistenten, das Gleiche zu tun. Wir verabschiedeten uns von allen Anwesenden, am Ende gingen wir zum großen Boss, schüttelten ihm die Hand und dankten ihm für seine wertvolle Zeit. Ich fügte hinzu:
    »Wie gesagt, das ist unser bestes Angebot. Wir sind jetzt noch eine Woche hier in der Stadt und nehmen Termine mit anderen Kunden wahr, die auf Kostenplanungen für ihre Bauprojekte warten. Noch einmal vielen Dank, dass Sie uns Ihre Zeit geschenkt haben.«
    Ich drehte mich um, bedeutete meinen Assistenten, mir zu folgen, und wir gingen.
     
    »Wie machst du das?«, fragte mich Richard an diesem Abend – mein treuer Assistent und einer der besten Ingenieure, die ich kenne.
    »Wie mache ich was?«
    »Wie kannst du einen kühlen Kopf behalten, wenn wir damit rechnen müssen, dass uns ein Millionenvertrag durch die Lappen geht?«
    »Uns? Du meinst unserer Firma.«
    »Das ist doch das Gleiche.«
    »Keineswegs.« Ich bestellte den zweiten doppelten Scotch in der Hotelbar und sah meinen Kollegen an. »Überleg doch mal, Richard – was kann schlimmstenfalls passieren?«
    »Dass der Vertrag platzt.«
    »Und?«
    »Dann könnten wir unseren Job verlieren.«
    »Und?«
    »Was soll dieses ›Und? Und? Und?‹«, regte er sich auf. »Das ist doch kein Spaß!«
    Ich nahm einen Schluck Scotch. »Natürlich ist das kein Spaß«, sagte ich. »Sieh es doch mal so: Wir haben alle unsere Trümpfe ausgespielt, wir haben dem Mann das niedrigste Angebot
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