Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn

Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn

Titel: Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn
Autoren: Sergio Bambaren
Vom Netzwerk:
unterbreitet, zu dem wir befugt sind. Wir haben unsere Arbeit erledigt, ganz zu schweigen davon, dass wir uns dieses erbärmliche Alphamännchen anhören mussten, das meint, ihm gehöre die Welt, nur weil es alles, was es besitzt, mit Geld erkaufen konnte. Wenn der Mann das Angebot ablehnt, können wir daran nichts ändern. Und unsere Jobs – kann sein, dass wir sie verlieren, Richard, aber du bist so ein genialer Ingenieur, dass dich jede andere Firma sicherlich mit Handkuss nehmen würde, wenn du rausfliegst. Also denk positiv! Warum sollte der Mann das Angebot nicht annehmen? Wir wissen nicht, was er und seine Mitarbeiter denken und worüber sie jetzt reden. Warum sollten wir uns also Stress wegen etwas machen, das wir nicht beeinflussen können? Wenn der Vertrag nicht zustande kommt, ist das nicht das Ende der Welt, und das weißt du, Richard. Dir wird einfach nur mulmig, weil du Angst vor dem Unbekannten hast.«
    »Du hast recht«, sagte er, »es ist nur, weil die Geschäftsleitung so viel Druck macht …«
    »Das ist deren Problem, diesen Schuh musst du dir nicht anziehen.«
    »Wenn du meinst …« Er fühlte sich noch immer nicht ganz wohl in seiner Haut.
    »Na komm, entspann dich. Morgen bekommen wir die Antwort – wie sie auch ausfallen mag.«
    »Okay.«
    Wir bestellten und noch etwas zu trinken, und danach gingen wir zu Bett. Ich war völlig entspannt …
     
    … so entspannt, dass ich den nächsten Morgen völlig verschlief! Um elf Uhr wachte ich mit fürchterlichen Kopfschmerzen auf. Ich nahm ein paar Aspirin und sprang aus dem Bett. Auf dem Weg zum Bad sah ich, dass jemand einen Umschlag unter der Tür hindurchgeschoben hatte. Ich riss ihn auf.
    »Bitte rufen Sie uns an, damit wir für heute Nachmittag mit unseren Anwälten einen Termin vereinbaren und den Vertrag unterzeichnen können. Wir akzeptieren Ihr Angebot.«
    Ich lächelte. Bevor ich mich unter die Dusche stellte, rief ich Richard an und überbrachte ihm die gute Nachricht.
    Und doch musste ich langsam einsehen, dass die Abgeklärtheit, die ich bei der Präsentation und auch gegenüber meinen Kollegen in der Hotelbar an den Tag gelegt hatte, auch ein hoher Preis dafür war, dass ich meinen »Traumjob« damals angenommen hatte. Ich fühlte mich einsam und gelangweilt; ich vermisste das Wellenreiten so sehr und hatte auch sonst keine Zeit mehr für die Dinge, die ich gern tat. Den wahren Grund, warum ich immer so entspannt war, hatte ich aber noch nicht begriffen: Immer wenn ich unter Druck stand, baute ich mit ein paar Drinks meinen Stress ab.
    Leider hatte mir mein Vater nicht gesagt, dass wir genetisch zur Sucht neigen. Ich nehme es ihm nicht übel, denn er kann nichts dafür. Ohne es zu merken, war ich also kurz davor, die Grenze zu überschreiten, an der gelegentlicher Alkoholgenuss krankhaft wird. Ich wurde mit der Veranlagung zum Alkoholismus geboren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mich diese Tatsache einmal einholen würde.

so hat sich also tiefe Finsternis auf mein Leben gesenkt. Ich begann exzessiv zu trinken.
    Zuerst konnte ich diese schreckliche Wahrheit überhaupt nicht akzeptieren – Probleme haben andere, aber ich doch nicht! Aus irgendeinem Grund hielt ich mich damals für unbesiegbar. Wahrscheinlich gelangen alle Menschen irgendwann einmal an diesen Punkt. Wenn unsere ganze Zukunft noch vor uns liegt, glauben wir, das Glück würde ewig auf unserer Seite stehen. Doch die Erfahrung zeigt uns, dass das ein großer Irrtum ist.
    Ich habe Dir schon geschrieben, dass mich das Leben vor Herausforderungen gestellt hat. Der Mensch, den ich auf dieser Welt am meisten geliebt habe, starb ganz plötzlich in meinen Armen. Ich erinnere mich daran so deutlich, als sei es erst gestern gewesen, dabei ist es schon dreizehn Jahre her. Wie doch die Zeit vergeht!
    Ich hatte gelesen, dass Menschen sterben – bei Verkehrsunfällen, im Krieg, bei Schießereien, im Krankenhaus. Ich erinnere mich auch noch dunkel an das Begräbnis meines Großvaters, näher aber war ich dem Tod bis dahin noch nicht gekommen. Bei meiner Mutter, Deiner Großmutter, war das anders. Sie starb in meinem Beisein, und mir wurde zum ersten Mal bewusst, was beim Sterben wirklich passiert: Die Menschen verlassen ihren Körper. So empfand ich das bei meiner Mutter. Dennoch betete ich Nacht für Nacht, sie möge zurückkommen und bei mir sein, wenn auch nur noch einmal für einen kurzen Augenblick. Aber sie kam nicht zurück.
    Ich werde nie vergessen, wie verlassen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher