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L(i)ebenswert (German Edition)

L(i)ebenswert (German Edition)

Titel: L(i)ebenswert (German Edition)
Autoren: Sandra Gernt
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Schlaftrunken trat er danach und drehte sich auf die andere Seite.
    Kühl ist es hier, ging es ihm träge durch den Kopf, als er sich zusammenrollte. Erneut berührte ihn etwas am Fuß. Schlagartig war er hellwach und fuhr auf.
    Zu spät!
    Eiserne Finger umklammerten seinen Knöchel und begannen an ihm zu ziehen.
    Das Tier! Das Tier hatte ihn gepackt!
    Cyrian begann hilflos zu kreischen, als er bäuchlings durch den Kerkerdreck gezogen wurde, näher und näher an den grausamen Massenmörder heran. Seine Finger krallten sich in das stinkende Stroh, bemühten sich verzweifelt um einen Halt. Er versuchte nach dem Tier zu treten und strampelte wie verrückt.
    Eine zweite Hand glitt über seinen Körper und verursachte ihm eine Gänsehaut. Sie packte ihn am Arm, riss ihn rücklings in die Höhe und dann herum. Jetzt rutschte er seitlich auf das Tier zu.
    „Neeeeeeiiiiiiiiiin!“, heulte er wie ein erbärmliches Kleinkind. Er war längst nicht mehr Herr seiner Angst. Zu viele Geschichten hatte er über das Tier gehört, eine schauriger als die andere. Und nun befand er sich in dem unnachgiebigen Griff dieser erbarmungslosen Kreatur. Hatte er nicht ebenfalls gehört, dass das Tier seine Opfer gefressen hatte? Würde es seine Zähne auch in sein Fleisch schlagen? Hatten die Wachen es hungern lassen? Himmel! Was von den zahlreichen Gerüchten war wirklich wahr?
    Er wurde an einen harten Körper gepresst. Haare streiften kitzelnd seine Haut, als sich ein Gesicht gegen seine Schulter drückte. Cyrian verkrampfte sich, als ihm bewusst wurde, dass das Tier an ihm roch. Die schnüffelnde Nase wanderte über seine Brust und über seinen Bauch bis hin zu seinem Schritt, glitt wieder höher und bohrte sich in seine Haare.
    „Ich rieche Sonne an dir“, krächzte eine heisere Stimme. „Und den Frühling.“
    Das Tier sprach mit ihm!
    „Wer bist du? Was hast du getan, dass man dich zu mir in dieses Loch steckt?“
    Cyrian würgte an seiner Angst. Was würde das Tier mit ihm anstellen? Und … und würde es sehr wehtun?
    „Rede!“, wurde er von der rauen Stimme angeherrscht. „Rede mit mir!“
    Hände schüttelten ihn voller Nachdruck, während das Tier auf ihn einschrie:
    „Rede! Verdammt, rede!“

    Er ließ lockerer, als der junge Mann zu weinen begann. Wenn er wollte, dass der Kleine sprach, würde er geduldiger sein müssen. Gewiss hatten die Wärter ihn mit abscheulichen Geschichten in den Wahnsinn getrieben. Lügen, alles Lügen!
    Thars strich über die weiche Haut seines Leidensgefährten. Er musste selbst ruhiger werden. Seine Gabe nutzen, auch wenn er sie lange unterdrückt hatte und sehr geschwächt war von Hunger und Schmerz und der Sehnsucht nach Freiheit.
    Ein Liebesdiener, erkannte er, als er die Witterung des Jungen auf sich wirken ließ. Zu deutlich war der Geruch nach rauen Händen, Schweiß und Sperma. Warum hatten die Wärter ihm so jemanden geschickt? Glaubten sie, es würde ihm nach dem Körper eines Kindes gelüsten? Obwohl – der Kleine war älter als er aussah. Viel erkennen konnte Thars selbstverständlich nicht, auch seine übermenschlich scharfen Augen versagten größtenteils in der lichtlosen Finsternis. Dennoch, dank seines Geruchssinns nahm Thars deutlich wahr, dass der Junge beinahe das Ende des Wachstums erreicht hatte, er musste neunzehn oder zwanzig Jahre zählen.
    Wie alt war er selbst noch mal? Während er durch die weichen Haare wühlte, die in sachten Wellen bis an die Schultern des jungen Mannes reichten – schnupperte er da einen Honigblondton? – dachte Thars kurz nach. Mehr als zwanzig Jahre waren es bestimmt. Weniger als dreißig, wenn er sich nicht irrte. Hier unten im Kerker verlor sich alles Denken und Erinnern.
    Gleichgültig.
    Er musste sich stark konzentrieren. An vielen Händen, durch die der Junge gereicht worden war, hatte Blut geklebt. Schuld. Thars sah flüchtig die Gesichter, alte, junge, grausame, freundliche. Unzählige Menschen, denen der Gestank von Schuld anhaftete. Es war schwierig, all diese Gerüche auszublenden und bis zu dem ureigenen Duft des Jungen vorzudringen. Er gefiel ihm. Süß und unschuldig. Oh, der Kleine hatte gestohlen. Seine Freier ausgetrickst. Einiges getan, um nicht verhungern zu müssen. Er war noch immer sehr kindlich, nicht bloß äußerlich, sondern auch im Inneren.
    Ein Kind, das tat, was die Erwachsenen ihm befahlen. Das sich freiwillig der Gewalt von Männern auslieferte, weil seine Mutter es ihm befohlen hatte. Thars schnupperte weiter
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