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L(i)ebenswert (German Edition)

L(i)ebenswert (German Edition)

Titel: L(i)ebenswert (German Edition)
Autoren: Sandra Gernt
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den Patrouillen geworden, zumindest bei den einfachen Soldaten; die Hauptmänner kannten ihn alle persönlich. Tatsächlich befand sich kein Führungsrang unter ihnen. Kein Wunder, dass die Dinge so außer Hand geraten waren.
    „Hat er den Hauptmann getötet?“, fragte Geron betont sachlich.
    „N-nein, das nicht …“ Betretene Blicke, dann erklärte schließlich einer der Männer seinen Stiefeln, dass der Hauptmann des Südlagers in der Nacht einem Ruf der Natur hatte folgen müssen. Der Gefangene hatte offenbar die Gelegenheit genutzt, dem Hauptmann einen Tritt in empfindliche, zudem gerade unbekleidete Körperteile, zu verpassen und sich danach mit dessen Pferd davongemacht. Da sie kein überzähliges Pferd mithatten und den Eindringling nicht verlieren durften, hatten die Soldaten ihren Führer zurücklassen müssen. Das war nicht nur einfach demütigend für den Hauptmann, denn offensichtlich hatte dieser zuvor bei der Jagd seine unerfahrene Truppe planlos in die Irre geschickt und sich leichtsinnig von seinen Leuten entfernt. Andernfalls hätte der Gefangene sich nicht so unbekümmert an ihn heranschleichen können und wie sonst war zu erklären, dass nicht einer der Männer zurückgeblieben war, um dem Hauptmann sein eigenes Pferd zu überlassen? Ein Verstoß der strikten Regeln, der Folgen für den Rang des Hauptmannes haben würde. Allerdings konnte Nadisland es sich nicht leisten, Führungsränge zu verlieren, selbst wenn sie unfähig waren. Nicht wegen einer solch nichtigen Angelegenheit, bei der es zwar noch viele offene Fragen und Ungereimtheiten gab, doch die Antworten interessierten ihn nicht.
    Seufzend traf Geron eine Entscheidung.
    „Ich übernehme den Gefangenen. Ihr kehrt zu eurem Lager zurück, sofort!“
    „Werden Sie den Vorfall an den Kommandanten weitergeben, Bannerführer?“, fragte einer der Soldaten zaghaft.
    „Verschweigen kann ich es nicht.“ Geron betrachtete die hängenden Köpfe der jungen Männer. Keiner von ihnen war älter als siebzehn, wenn überhaupt. Der Krieg dauerte schon viel zu lang, sie waren mittlerweile gezwungen, unausgebildete Kinder zu rekrutieren.
    „Helft mir, den Gefangenen auf mein Pferd zu legen. Vielleicht muss ich dem Kommandanten nicht jedes einzelne Detail erzählen, wie ihr euren Hauptmann während der Jagd verloren habt.“
    „Herr, wenn Sie mein Pferd nehmen, kommen Sie besser voran, als wenn Sie nebenher laufen müssen …“, murmelte einer der Soldaten.
    „Ein guter Gedanke. Es würde Zeit sparen und sich gewiss vorteilhaft auf meine Laune auswirken.“
    Geron gestattete sich kein Lächeln über den Eifer der jungen Soldaten und machte auch keine weiteren Andeutungen mehr. Sie sollten ein wenig schwitzen, immerhin hatten sie sich wie wilde Tiere auf einen wehrlosen Mann gestürzt.

    Es gab ein striktes Protokoll, was mit aufgegriffenen Feinden zu geschehen hatte. Dazu gehörten Versorgung der Verletzungen, Verhör durch den Kommandanten und anschließend zügiger Weitertransport zum Hauptstützpunkt. Die Lager der Grenzpatrouillen bestanden aus wenig komfortablen Zelten, die innerhalb von ein paar Minuten aufgestellt und wieder abgebrochen werden konnten. Flexibilität war wichtiger als Bequemlichkeit. Wer hier seinen Dienst versah, war strafversetzt worden, hatte sich aus Überzeugung freiwillig gemeldet oder war zu jung, um im Hauptheer zu dienen.
    Geron gehörte zu den Freiwilligen. Nachdem er bei einem Gefecht von mehreren Armbrustbolzen zugleich getroffen worden war und nur mit knapper Not überlebt hatte, war ihm ehrenvolle Entlassung angeboten worden, da nicht abzusehen gewesen war, dass er jemals wieder würde laufen können. Bei diesem Gefecht hatte Geron allerdings den einzigen Menschen verloren, der ihm nach dem Tod seiner Eltern jemals etwas bedeutet hatte. Für seine freiwillige Verpflichtung nach seiner Genesung hatte man ihn zum Truppenführer befördert und in die Grenzlande geschickt. Mittlerweile hinkte er lediglich leicht auf dem rechten Bein, wenn er sich überlastet hatte. Kommandant Krazon hatte ihn rasch zum Bannerführer erhoben, mit der wenig schmeichelnden Begründung, dass er jemand als rechte Hand brauchte, der weder ein Krimineller noch zu dumm war, um sein eigenes Zelt zu finden, oder bis gestern noch Muttermilch getrunken hatte.
    In den vergangenen drei Jahren hatte Geron gelernt, zu Krazon aufzublicken, einen ruhigen, besonnenen Mann Anfang des vierten Lebensjahrzehnts. Der Kommandant, der die Befehlsgewalt
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