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Liebe und Verrat - 2

Liebe und Verrat - 2

Titel: Liebe und Verrat - 2
Autoren: Michelle Zink
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Geist, die mit einem sanften Rauschen seidigen weißen Stoffes durch meine geöffnete Zimmertür nach draußen verschwindet.
    Auf dem Korridor ist alles still. Die Türen zu den anderen Schlafräumen sind geschlossen. Das dämmrige Licht der weit heruntergedrehten Wandlampen ist so schwach wie die Beleuchtung in meinem Zimmer und so kann ich die Formen und Konturen der Möbel in dem langen Korridor gut ausmachen. Ohne zu zögern gehe ich in Richtung der Treppe.
    Die Gestalt, die in ein weißes Nachthemd gekleidet ist, geht die Treppe hinunter. Es kann nur eins der Hausmädchen sein. Niemand sonst würde um diese Zeit im Haus unterwegs sein. Leise rufe ich nach ihr, weil ich niemanden wecken will.
    »Hallo? Ist alles in Ordnung?«
    Am Fuß der Treppe dreht sich die Gestalt langsam zu mir um. Ich keuche auf, kümmere mich nicht mehr um das schlafende Haus. Denn ich blicke in das Antlitz meiner Schwester.
    Wie bei unserer Begegnung mit den Schwingen spielt ein leises Lächeln um ihre Mundwinkel. Das Lächeln ist sanft und hinterhältig zugleich. Es ist ein Lächeln, das nur Alice zustande bringt.
    »Alice?« Ihr Name auf meiner Zunge ist vertraut und beängstigend. Vertraut, weil sie meine Schwester ist. Mein Zwilling. Beängstigend, weil ich weiß, dass sie es nicht sein kann, nicht in Fleisch und Blut. Ihre Gestalt leuchtet förmlich, und ich kann deutlich erkennen, dass ihr physischer Körper nicht gegenwärtig ist.
    Das ist völlig unmöglich , denke ich. Es kann nicht sein . Kein menschliches Wesen, das mit den Schwingen reist, kann die Grenze in die wirkliche Welt überschreiten. Nicht sichtbar jedenfalls. Das ist eine der ältesten Regeln, die der Orden der Grigori aufgestellt hat, der immer noch über die Prophezeiung wacht, über die Reisen mit den Schwingen und über die Anderswelten.
    Ich rätsele immer noch über Alice’ verbotenes Erscheinen, als sie zu verblassen beginnt. Ihre Gestalt wird immer durchscheinender. In dem Augenblick, ehe sie ganz verschwindet, verwandelt sich ihr Blick, wird hart und böse. Dann ist sie weg.
    Ich packe das Geländer, weil ich Angst habe, zu Boden zu sinken. Alles dreht sich vor mir, während mir die Ungeheuerlichkeit dieses Ereignisses bewusst wird. Es stimmt: Alice ist eine exzellente Zauberin; schon vor meiner Abreise aus New York war sie ungeheuer geschickt. Aber ihr Auftauchen hier in London, über diese gewaltige Entfernung, kann nur bedeuten, dass sie seitdem noch viel mächtiger geworden ist.
    Natürlich habe ich mich nie der Illusion hingegeben, dass es anders sein könnte. Denn obwohl ich erst dabei bin, all meine Gaben zu entdecken, merke ich, wie ich jeden Tag stärker werde. Es ist nur natürlich, dass Alice die gleiche Entwicklung durchmacht.
    Aber dass sie die Grenze durchbrochen hat, die von den Grigori gesetzt wurde, kann nur eins bedeuten: Die Seelen mögen mich zwar all die Monate in Frieden gelassen haben, aber nur, weil meine Schwester immer noch all ihre Macht für Samael einsetzt.
    Und ich habe das Gefühl, dass sie etwas vorhaben, was ihrem langen Stillhalten ein Ende machen wird.

4
    Guten Morgen, Lia.«
    Philip marschiert ins Zimmer. Seine ganze Haltung drückt Selbstvertrauen und Autorität aus. Die Linien um seine Augen sind tiefer geworden, und ich frage mich, ob ihn die Reise erschöpft hat oder ob es daran liegt, dass er beinahe alt genug ist, um mein Vater zu sein.
    »Guten Morgen. Bitte, nehmen Sie Platz.« Ich lasse mich auf dem Sofa nieder, während sich Philip in den Sessel neben dem Kamin setzt. »Wie war Ihre Reise?«
    In gegenseitigem Einvernehmen vermeiden wir Worte und Begriffe, aus denen etwaige Lauscher den wahren Inhalt unseres Gesprächs erkennen könnten.
    Er schüttelt den Kopf. »Sie war es nicht. Ich hatte diesmal so große Hoffnungen, aber …« Wieder schüttelt er entmutigt den Kopf. Er lehnt sich gegen die Rückenlehne des Sessels und jetzt ist die Erschöpfung in seinem Antlitz nicht mehr zu übersehen. »Manchmal zweifle ich daran, dass wir das Mädchen jemals finden, von der Namenlosen ganz zu schweigen.«
    Ich bemühe mich, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Philip Randall hat unermüdlich gearbeitet, um die beiden fehlenden Schlüssel aufzuspüren. Dass es uns bislang noch nicht gelungen ist, ist nicht sein Fehler. Wir haben nur einen Namen: Helene Castilla. Er steht auf der Liste, die Henry so eifrig gehütet hat, und wir konnten bisher noch niemanden mit diesem Namen ausfindig machen, der zudem das
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