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Liebe ist ein Kleid aus Feuer

Titel: Liebe ist ein Kleid aus Feuer
Autoren: Brigitte Riebe
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wasserklaren Augen, die sich unversehens weit öffnen und durch einen hindurchschauen konnten, als wäre man gar nicht vorhanden. Manchmal hatte sie das Gefühl, die Mutter sei ganz aus Schnee gemacht, weißem, reinem Schnee, den man nicht berühren durfte – es sei denn, man wollte erfrieren.
    Eiskönigin, so nannte Eila sie im Geheimen und schämte sich im gleichen Augenblick dafür, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, hätten ihr Geschwister und damit Verbündete zur Seite gestanden, aber sie war das einzige Kind geblieben, obwohl Oda nach ihr noch viermal schwanger geworden war.
    Ein schriller Schrei ließ sie zusammenfahren.
    Eila drehte sich um und lief hinaus, während die Tauben erschrocken aufflatterten. Sie musste nicht zum Himmel schauen, um zu wissen, was gerade geschah – und tat es unwillkürlich doch. Ein Paar sichelförmiger Schwingen dicht über ihrem Kopf, denen ein zweites in kurzem Abstand folgte. Flügelschlagen. Bellklingeln. Zwei schlanke Vogelkörper, die sich schnell höher schraubten.
    Die Falken waren zurück!
    Eila rannte zum Wehrturm und verscheuchte die Hundemeute, die sich kläffend an ihre Fersen heftete. Eines Tages würde sich an seiner Stelle ein stattlicher donjon aus Stein über all die anderen Gebäude erheben. Sie wusste, dass der Vater seit langem davon träumte. Bis dahin blieb es freilich ein Bergfried aus rohen Holzstämmen, auf den man eine lächerliche Zinnenkrone gemauert hatte, immerhin hoch genug, um über das Land zu schauen.
    Sie kletterte die engen Leitern nach oben, so schnell sie nur konnte, und streifte dabei Federspiel, Bell und Hauben, die viel zu lang schon ungenützt an der Wand hingen. Eila stieß die Falltür zur Plattform auf.
    Sie war zu spät gekommen.
    Auf dem Boden vor ihr Blut und Federn. Die Falken hatten Tarzas Gefährten bereits gekröpft. Eilas Augen wurden nass. Dann dachte sie an den Vater und schluckte die Tränen hinunter.
    »Lieb deine Tauben, kleiner Habicht!«, hätte er jetzt gesagt, mit jenem eigenartigen Ausdruck, der ihr das Herz jedes Mal aufs Neue zusammenzog, weil sie spürte, dass diese Worte nicht ihr galten, sondern an jemand anderen gerichtet waren. Oftmals hatte sie schon darüber nachgegrübelt, wer das sein könnte, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.
    Das Verlangen, bei ihm zu sein, machte ihr die Kehle eng. Er war das Licht in ihrem Leben, die wärmende Sonne, die sie am Erfrieren hinderte. Aber was wusste sie schon von ihm?
    Dass er ein alter, grauer Wolf war, der eigentlich von weit her aus dem Westen stammte. Früher hatte er manchmal von dem großen grünen Fluss seiner alten Heimat erzählt und einem schmäleren, der sich wie ein blaues Band durch die hügelige Landschaft gegraben hatte, von Weinbergen, alten Städten, stolzen Klöstern und bunten, volkreichen Märkten voller Dinge, die sie nicht einmal dem Namen nach kannte. In letzter Zeit jedoch hatte er nichts mehr davon erwähnt.
    Ein Wolf mit einer gebrochenen Nase und schiefen, abgenutzten Zähnen. Mit einem wulstig verheilten Schwerthieb, der vor Jahren im Kampf seine linke Wange gespalten hatte. Mit einer alten Pfeilnarbe auf dem Rücken, die ihm bei jedem Wetterwechsel zu schaffen machte.
    Ein Wolf, der einen so fest packen konnte, dass man Angst bekam, keine Luft mehr zu kriegen.
    Ein Wolf, der so überraschend zärtlich sein konnte, wenn er nur wollte.
    »Lieb sie nur, deine Tauben, wenn du unbedingt willst«, hörte sie ihn sagen, »aber vergiss dabei niemals, dass sie für andere nur Nahrung sind. Wer überleben will, muss fressen. Und die Starken fressen die Schwachen, so lautet nun mal das Gesetz. Außerdem ist ein einziger Jagdfalke, den ich abgetragen habe, mehr wert als dein ganzer Schlag zusammen.«
    Es war auf einmal, als stehe er neben ihr.
    Der Vater sollte stolz auf sie sein, gerade jetzt, wo sie getrennt waren. Sie würde also tapfer bleiben, wie er es von ihr erwartete, und wenn es noch so schwer fiel. Ihr Atem wurde ruhiger. Mit neu erwachtem Interesse sah Eila sich um. Es kam ihr auf einmal nicht mehr so frostig vor wie in den vergangenen Tagen. Sogar der Wind hatte sich gelegt, und eine blasse Januarsonne ließ den Schnee auf den kahlen Bäumen glitzern.
    Von hier oben gesehen, war die Welt weiß und still. Die Welt, die ihrem Vater gehörte. Wohin sie auch schaute, alles war sein Eigentum. Die abgeernteten Felder. Die Weiden, auf denen im Sommer buntes Vieh graste. Die Wälder,
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