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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River
Autoren: John Irving
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in Twisted River eine eigene Unterkunft hatten, tranken zu Hause. Die »Durchreisenden« - also die meisten Waldarbeiter und alle kanadischen Wanderarbeiter - tranken in ihren kargen Schlafbaracken, die in dem ewig feuchten Teil des Ortes direkt oberhalb des Flussbeckens standen. Von diesen Herbergen aus konnte man die tristen Spelunken zu Fuß erreichen, ebenso den schäbigen Tanzsaal, der seinen Namen zu Unrecht trug, da dort gar nicht getanzt wurde - es gab nur Musik und den üblichen Männerüberschuss.
    Die Holzfäller und Sägewerksarbeiter, die Familie hatten, zogen die kleinere, aber angeblich »zivilisiertere« Siedlung Paris vor. Ketchum weigerte sich standhaft, das Holzfällercamp »Paris« zu nennen, und blieb bei dem, wie er sagte, richtigen Namen des Fleckens - West Dummer. »Keine Ortschaft, nicht einmal ein Holzfällercamp, sollte nach einer Firma benannt werden«, erklärte Ketchum. Außerdem empörte es ihn, dass ein Holzunternehmen in New Hampshire nach einer Firma in
Maine
benannt wurde - die zudem ausgerechnet Toboggans herstellte, indianische Holzschlitten.
    »Meine Güte!«, rief der Koch. »Bald treibt auf dem Twisted River nur noch Faserholz – zur Papierherstellung! Was ist denn an Toboggans schlimmer als an
Papier?«
    »Aus Papier werden
Bücher
gemacht!«, hatte Ketchum entgegnet. »Und welche Rolle spielen denn Toboggans bei der Bildung deines Sohnes?«
    In Twisted River waren Kinder Mangelware, und die wenigen gingen in Paris zur Schule - so wie Danny Baciagalupo, wenn er überhaupt zur Schule ging. Um Dannys
Bildung
zu verbessern, behielt ihn der Koch nicht selten zu Hause, damit er das eine oder andere Buch las, eine Tätigkeit, die in der Schule in Paris (oder West Dummer) nicht unbedingt gefördert wurde. »Gott bewahre, dass die Kinder in einem Holzfällerlager lesen lernen!«, lästerte Ketchum. Er hatte als Kind nicht lesen gelernt, worüber er immer noch wütend war.
     
    Auf der anderen Seite der kanadischen Grenze herrschte - und herrscht nach wie vor - eine große Nachfrage sowohl nach Rundholz als auch nach Faserholz. Der Norden New Hampshires liefert weiterhin riesige Holzmengen an Papiermühlen in New Hampshire und Maine sowie an eine Möbelfabrik in Vermont. Doch von den einstigen Holzfällercamps zeugen nur noch kümmerliche Ruinen.
    In einem Ort wie Twisted River blieb nur das Wetter unverändert. Von der Staumauer am unteren Ende des Little Dummer Pond bis zum Flussbecken unterhalb von Twisted River hielt sich zu jeder Jahreszeit, außer wenn der Fluss zugefroren war, bis weit in den Vormittag hinein ein hartnäckiger Nebel oder Dunst über dem unruhigen Wasser. Das durchdringende Wimmern der Sägeblätter von den Sägewerken her war so vertraut wie das Gezwitscher der Vögel, allerdings waren weder der Sägelärm noch das Vogelgezwitscher so verlässlich wie die Tatsache, dass es in diesem Teil New Hampshires nie Frühlingswetter gab - von jener scheußlichen Periode zwischen Anfang April und Mitte Mai abgesehen, die sich durch gefrorenen, langsam tauenden Schlamm auszeichnete.
    Dennoch war der Koch geblieben, und nur wenige in Twisted River kannten den Grund. Noch weniger wussten, warum, woher und wann er überhaupt gekommen war. Doch sein Hinken hatte eine Vorgeschichte, das war allen klar. In einem Ort mit einem Sägewerk oder in einem Holzfällercamp war ein Hinken wie das von Dominic Baciagalupo nichts Ungewöhnliches. Wenn Stämme jeder Größe in Bewegung gesetzt wurden, war ein Knöchel rasch zerquetscht. Selbst wenn der Koch gerade nicht 33 ging, fiel auf, dass der Stiefel an seinem kaputten Fuß zwei Nummern größer war als der an seinem intakten Fuß. Und wenn Dominic saß oder ruhig dastand, war der größere Stiefel immer abgewinkelt. Die Einwohner von Twisted River, die sich mit solchen Dingen auskannten, wussten, dass so eine Verletzung von allen möglichen Unfällen bei der Holzarbeit herrühren konnte.
    Dominic hatte sich für den Job als Teenager ausgegeben. Seiner eigenen Einschätzung nach war er damals zwar nicht so unerfahren wie Angel Pope gewesen, doch »noch ziemlich grün hinter den Ohren«, wie er seinem Sohn erzählte. Er hatte nach der Schule auf einer Verladerampe in einem der großen Sägewerke in Berlin gejobbt, wo ein Freund von Dominics abwesendem Vater Vorarbeiter war. Dieser angebliche Freund von Dominics Dad war dort bis zum Zweiten Weltkrieg Teil des Inventars gewesen, doch der Koch hatte den sogenannten Onkel Umberto als
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