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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River
Autoren: John Irving
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oder Desinformationsbröckchen zusammengetragen, ähnlich den unvollständigen Beweisen und lückenhaften Indizien in dem zunehmend beliebten Brettspiel Cluedo, das der Koch und Ketchum mit Dan spielten und zu dem sich manchmal auch Jane gesellte. (War es Oberst Günther von Gatow in der Küche mit dem Kerzenleuchter, oder hat Fräulein Ming den Mord mit dem Revolver im Musikzimmer begangen?)
    Als Kind wusste Dominic nur, dass sein Vater, ein Neapolitaner, die schwangere Annunziata Saetta in Boston sitzengelassen hatte. Es ging das Gerücht, er habe ein Schiff zurück nach Neapel genommen. Auf die Frage »Wo ist er jetzt?« (die der Junge seiner Mutter oft gestellt hatte) zuckte Annunziata seufzend die Achseln, schaute entweder gen Himmel oder zu der Dunstabzugshaube über dem Küchenherd und sprach die geheimnisvollen Worte:
»Vicino di Napoli.« -
»In der Gegend von Neapel«, vermutete Dominic. Mit Hilfe eines Atlas und weil der Junge gehört hatte, wie seine Mutter im Schlaf die Namen zweier Bergstädte (und Provinzen) in der Gegend um Neapel murmelte - Benevento und Avellino -, kam Dominic zu dem Schluss, dass sein Dad in diesen Teil Italiens geflohen war.
    Umberto, der war eindeutig kein Onkel - und auf jeden Fall ein »legendäres Arschloch«, wie Ketchum es formuliert hätte.
    »Was ist denn Umberto für ein Name?«, hatte Dominic den Vorarbeiter gefragt.
    »Der vom König!«, hatte Umberto entrüstet geantwortet.
    »Ich meine, das ist doch ein neapolitanischer Name, stimmt's?«, hatte der Junge gefragt.
    »Was fragst du mich hier aus? Du bist zwölf und tust, als wärst du schon sechzehn!«, rief Umberto.
    »Ich soll doch allen sagen, ich sei sechzehn, das war doch
deine
Idee«, hatte Dominic den Vorarbeiter erinnert.
    »Hast ja auch einen Job gekriegt, Baciagalupo«, hatte Umberto gesagt.
    Dann rollten die Baumstämme, und Dominic wurde Koch. Seine Mutter, eine auf Sizilien geborene Italoamerikanerin, die eine ungewollte Schwangerschaft von Boston nach Berlin in New Hampshire verschlagen hatte, konnte kochen. Sie war aus der Großstadt nach Norden gezogen, nachdem sich Gennaro Capodilupo in Richtung der Docks in der Nähe von Atlantic Avenue und Commercial Street geschlichen und sie in anderen Umständen zurückgelassen hatte, um, ob buchstäblich oder im übertragenen Sinn, das Schiff »zurück nach Neapel« zu nehmen.
    Arschloch (wenn schon nicht Onkel) Umberto hatte recht: Dominics abwesender Vater war kein Baciagalupo, sondern ein Capodilupo - was, wie Annunziata ihrem Sohn erklärte, »Wolfskopf« hieß. Was sollte die ledige Mutter schon machen? »Nach all den Lügen, die dein Vater erzählt hat, müsste er eigentlich Bocozdalupo heißen!«, sagte sie zu Dominic. Das bedeutete »Wolfsmaul«, wie der Junge später erfuhr - ein passender Name für das Arschloch Umberto, dachte er oft. »Aber
du,
Angelù, du bist mein
Wolfekuss«,
sagte seine Mutter.
    In dem Bemühen, ihn für ehelich zu erklären, und weil sie Wörter liebte, aber sehr eigenwillig damit umging, nannte seine Mutter Dominic nicht Kopf (noch Maul) des Wolfes; für Annunziata Saetta kam nur ein Wolfskuss in Frage, Baciodalupo. -Doch wegen Nunzis verschliffener Aussprache und wegen eines Tippfehlers im Kindergarten war der falsch buchstabierte Name hängengeblieben. Noch ehe er Koch wurde, war aus Dominic Baciodalupo ein Dominic
Baciagalupo
geworden.
    Seine Mutter benutzte auch die Kurzform Dom - Dominic leitet sich von
domenica
ab, was »Sonntag« bedeutet. Nicht, dass Annunziata eine strikte Anhängerin des von Ketchum so genannten »katholischen Zeugs« gewesen wäre. Was an der Familie Saetta katholisch
und
italienisch war, hatte die junge, unverheiratete Frau schließlich gen Norden nach New Hampshire getrieben; in Berlin würden sich andere Italiener (vermutlich auch Katholiken) ihrer annehmen.
    Hatte Nunzis Familie erwartet, dass sie ihr Kind zur Adoption freigeben und ins Bostoner North End zurückkehren würde? Nunzi wusste, dass so etwas gang und gäbe war, aber sie dachte nicht daran, ihr Baby wegzugeben, und geriet - trotz ihres beträchtlichen Heimwehs nach dem italienischen North End - auch nie in Versuchung, wieder nach Boston zu ziehen. Sie war ungeplant in andere Umständen geraten, worauf sie weggeschickt worden war, was sie verständlicherweise übelnahm.
    Auch wenn Annunziata in der Küche eine treue Sizilianerin blieb, waren die sprichwörtlichen Familienbande endgültig zerrissen. Ihre Bostoner Familie - und mit ihr
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