Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Sky, doch da mochte Lupita durchaus etwas falsch interpretiert haben.
    »Hatte sie irgendwelche Tätowierungen?«, fragte Danny.
    »Mr. Schriftsteller, es ist
Februar!«,
rief Lupita. »Ich habe sie draußen, in der Kälte, stehen lassen. Sie sah aus wie eine Polarforscherin!«
    »Konnten Sie ihre Haarfarbe erkennen?«, fragte Danny. (Amy war rotblond gewesen, erinnerte er sich; er hatte sie nie vergessen.)
    »Sie trug einen Parka - mit
Kapuze
1
.«,
rief Lupita. »Ich konnte nicht mal erkennen, welche Farbe ihre
Augenbrauen
hatten!«
    »Aber
groß
war sie.« Danny ließ nicht locker. »Nicht nur breitschultrig, sondern groß gewachsen, stimmt's?«
    »Die würde Sie
überragen!«,
rief Lupita. »Sie ist eine
Riesin!«
    Es war sinnlos, Lupita zu fragen, ob sie irgendwo einen Fallschirm bemerkt hätte. Danny überlegte krampfhaft, was er sonst noch fragen könnte. Zunächst war ihm Lady Sky damals älter als er selbst vorgekommen, doch später war er sich nicht mehr so sicher; vielleicht standen sie sich altersmäßig näher, als er gedacht hatte. »Wie alt war diese Frau, Lupita?«, fragte Danny. »Würden Sie schätzen, dass sie ungefähr in meinem Alter war - oder vielleicht ein wenig älter?«
    »Jünger.« Lupita klang überzeugt. »Nicht viel jünger, aber auf jeden Fall jünger als Sie.«
    »Oh«, sagte Danny, dem man die Enttäuschung anhörte. Dass er sich vorgestellt hatte, Amy könne wieder aus dem Himmel fallen, ließ Danny verzweifeln. Wunder gibt es nur einmal. Lady Sky hatte ja selbst gesagt, sie sei nur
manchmal
ein Engel. Doch Lupita hatte das Wort
entschlossen
verwendet, um die geheimnisvolle Besucherin zu beschreiben; Lady Sky hatte jedenfalls entschlossen gewirkt. (Und wie hatte der kleine Joe sie geliebt!)
    »Nun denn, wer auch immer sie sein mag«, sagte Danny am Telefon zu Lupita, »heute wird sie hier nicht auftauchen - nicht bei diesem Schneesturm.«
    »Eines Tages taucht sie da auf, oder sie kommt wieder hierher - ich weiß es einfach«, warnte ihn Lupita. »Glauben Sie an Hexen, Mr. Schriftsteller?«
    »Glauben Sie an
Engel!«,
fragte Danny zurück.
    »Die Frau sah zu gefährlich aus, um ein Engel zu sein«, wandte Lupita ein.
    »Ich werde die Augen offen halten«, versprach Danny. »Und Hero sag ich, sie ist ein
Bär.«
    »Es wäre weniger gefährlich, einem Bären zu begegnen, Senior Schriftsteller«, sagte Lupita.
    Gleich nach dem Ende ihres Telefonats ertappte Danny sich bei dem Gedanken, dass Lupita - sosehr er sie mochte - eine abergläubische alte Mexikanerin war. Glaubten Katholiken an Hexen?, fragte sich der Schriftsteller. (Danny wusste nicht, was Katholiken glaubten - und schon gar nicht, was speziell Lupita glaubte.) Ihn ärgerte, dass er beim Schreiben gestört worden war; außerdem hatte Lupita versäumt, ihm zu sagen,
wann
sie die Riesin in Toronto gesehen hatte. Heute Morgen vielleicht - oder doch schon letzte Woche? Eben noch hatte er Kurs gehalten und die Struktur seines ersten Kapitels geplant. Dann hatte ihn ein absurder Anruf völlig aus dem Konzept gebracht; jetzt ließ er sich sogar vom Wetter ablenken.
    Der
Inuksuk
war unter dem Schnee begraben. (»Kein gutes Zeichen«, konnte Danny Tireless fast sagen hören.) Und Danny ertrug es nicht, die vom Wind gebeugte kleine Kiefer anzusehen. Heute ähnelte das krumme und schiefe Bäumchen zu sehr seinem Vater. Es schien nicht viel zu fehlen, und die Kiefer ginge zugrunde, so wie sie sich unter der Schneelast im Sturm duckte.
    Wenn Danny nach Südosten schaute - in Richtung Pentecost Island, zur Mündung des Shawanaga River -, sah er nur weiße Leere. Es gab keine Grenzlinie, die anzeigte, wo der wirbelnde weiße Himmel endete und wo die schneebedeckte Bucht begann; es gab keinen Horizont. Schaute er nach Südosten, war Burnt Island unsichtbar - verschwunden, im Sturm verlorengegangen. Ganz im Osten konnte Danny von dem Festland nur die Wipfel der höchsten Bäume ausmachen. Wie der Horizont war auch das Festland verschwunden. Auf einer Landzunge stand die Hütte eines Eisanglers; vielleicht hatte der Schneesturm die Hütte weggeweht, oder sie war (so wie alles andere) schlicht nicht mehr zu sehen.
    Danny dachte, er sollte vielleicht besser ein paar zusätzliche Eimer Wasser aus dem See ins Haupthaus schleppen, solange er den See noch
sah.
Das letzte Loch, das er ins Eis gehackt hatte, war inzwischen von Neuschnee bedeckt; Danny und Hero mussten aufpassen, nicht durch die dünne Eisschicht über diesem Loch zu brechen. Es war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher