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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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die Schnelle gezeigt bekommt: irgendeine gut ausgesuchte Haeftlingsbaracke, Kultureinrichtungen des Lagers, der Krankenbau. Ich liess mich dann natuerlich in den Bunker fuehren, wo mir ganz offen und bereitwillig die ‚Schwarze Wand‘ gezeigt wurde, der Ort der Erschiessungen.
    Nachdem ich das Lager besichtigt hatte, es war jetzt spaeter Nachmittag, schritt ich zur Aktion und liess das ganze SS Krematoriumskommando in seiner Unterkunft vor den Spinden antreten und nahm eine Untersuchung vor: Goldene Ringe, Muenzen, Ketten, Kettchen, Perlen, so ziemlich saemtliche Waehrungen der Welt; bei dem einen so genannte ‚Souvenirs‘, bei den anderen kleine Vermoegen.
    Was ich aber nicht erwartet hatte, aus einem Spind fielen mir Geschlechtsteile frisch geschlachteter Bullen entgegen. Ich konnte mir das nicht erklaeren, der Spindinhaber unterrichtete mich, tatsaechlich, das gibt es hier, er brauche sie zur Steigerung seiner eigenen sexuellen Potenz! Nachdem ich also die Durchsuchungen vorgenommen hatte, damit ziemlich das ganze Krematoriumskommando festgenagelt hatte, saemtliche Mitglieder kurz verhoert hatte, war der Tag zu Ende, und ich begab mich in meine Unterkunft.
    Es ist also ein voller Erfolg. Ich konnte die Unterschlagung in dreiundvierzig Faellen aufdecken. Bitte um weitere Instruktionen und um schnellstmoeglichen Abzug.
    ...
    Doktor Tarnat
    Obersturmfuehrer.
    Schnellstmöglicher Abzug. Schmelz lächelte müde. Wenn das möglich gewesen wäre. Schnellstmöglicher Abzug. Entweder schaffe man Tatsachen, oder man ziehe schnellstmöglich ab, so hatte er es Tarnat zurücktelegrafiert. Von Stendal aus, weil er auf dem Weg von Buchenwald nach Ravensbrück gewesen war; überall, in allen Lagern hatten die gleichen Zustände geherrscht und gegen alle Lagerleiter hatte er ermitteln müssen. Zusammen mit Tarnat und Liebig.
    Was aus denen wohl geworden war? Doktor Kurt Schmelz erhob sich, die Papiere zwischen den steifen Fingern haltend, und nahm die Treppen bis zur Wohnung im zweiten Stock in Angriff. Auf den letzten Stufen musste er den Tarnatbericht zwischen die Lippen nehmen, um sich mit beiden Händen hochziehen zu können. Wieso er auch den Krückstock nicht mitgenommen hatte? Unvorstellbar. Wahrscheinlich, weil er ein Geschenk von Anna war. So wie er sich kannte, war das der Grund gewesen, aber egal, ein alter Mann war ja kein D-Zug.
    Alter Mann sei kein D-Zug, hatte das nicht sein Vater gesagt, als der ihn einmal besucht hatte? Doch, aber ja! Schmelz erinnerte sich, das hatte sein Vater gesagt, als die Rede auf Hindenburg gekommen war.
    Sehr richtig, Herr Oberassistent der Staatsbahn, ein alter Mann ist kein D-Zug, dachte Doktor Kurt Schmelz, schloss die Wohnungstür hinter sich, verriegelte sie sorgsam und ließ die Blätter des Berichts auf den Boden fallen. Einige segelten, andere fielen bleischwer. Ob allein die Flugbahn den Unterschied zwischen Hoffen und Handeln mache, überlegte er. Dann sei das Hoffen der freie Fall und das Handeln ohne Zweifel ein sanfter Flug in die Tiefe.
II
    Tatsachen hielten den Lauf der Dinge auf, Hoffnungen beschleunigten ihn. Jede Arbeit war ein Versuch, den Lauf abzubremsen und abzuspringen, ein Versuch, der den Tätigen verzweifeln ließ, weil es zu viele Hoffende gab. Wahrheit sei, was sich auszahle, Schmelz erinnerte sich nicht, wer das zu ihm gesagt hatte. Nicht einmal an die Situation erinnerte er sich. Er stand vor dem großen Spiegel im Flur, die Blätter lagen noch immer auf dem Boden, verstreut vor der Wohnungstür, als wären sie eine Barrikade, meinte Schmelz, die zu überwinden nicht mehr seine Aufgabe wäre.
    Er schaltete die Stehlampe ein und trat vor den mannshohen Garderobenspiegel. Wie lange stand er hier so verlassen vor dem Spiegel? Zehn Minuten oder eine Stunde? Wann hatte er die Tür geschlossen und verriegelt? Vor einer Stunde oder vor zehn Minuten? Und warum überhaupt hier? Wann hatte er sich je um den Spiegel gekümmert, den Spiegelblick? Hatte er ihn nicht gescheut die letzten zehn, fünfzehn Jahre? Und nun konnte er den Blick einfach nicht mehr vom Spiegel lösen. Fragen, die sich türmten, die unbeantwortet blieben, Schmelz ließ sie zu, verharrte mit zitternden Knien vor dem Spiegel, hielt sich am Rahmen fest und wich dem Blick des alten Mannes nicht aus, der ihm fest in die Augen sah.
    Was hast du angestellt? Warum hast du solch eine Angst? Vor welcher Erinnerung? Vor welcher? Was ist es, das du tief in diesen blauen Pupillen versenkt hast? Muss ich dich
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