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Letzte Ausfahrt Neckartal

Letzte Ausfahrt Neckartal

Titel: Letzte Ausfahrt Neckartal
Autoren: Thilo Scheurer
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der Sohn seiner Tante mit seinen gut und gerne vierzig Zentimetern Bizepsumfang jeder Bedrohung gewachsen. Und für ein paar tausend Euro hatte er sicherlich gegen einen Ausflug in den Süden Deutschlands nichts einzuwenden. Zumal Adam schon am Bodensee hatte zelten gehen wollen.
    Zu Marek Kowalskis Schwächen gehörte fraglos eine gewisse Überheblichkeit, obwohl Freunde nie überdrüssig wurden, ihn davor zu warnen. Unterschätze nie dein Gegenüber, waren ihre Worte, die er sich besser zu Herzen genommen hätte, bevor er Iceman antwortete. Doch für Kowalski lag es schlicht nicht im Bereich des Möglichen, dass auf dieser Welt jemand existierte, der es mit seiner Genialität aufnehmen könnte. Und so ahnte er auch nicht, dass schon Sekunden später, etwa achthundert Kilometer südlich, der Empfänger seiner elektronischen Antwort zum Telefonhörer griff. Jedoch nicht um die eine Million Euro zu organisieren, sondern um eine elfstellige Mobiltelefonnummer mit serbischer Vorwahl zu wählen.
    Bereits nach dem zweiten Rufton antwortete eine hohe, fast schrille Stimme: »Da?«
    » NOP ist raus – kümmere dich darum. Ich schicke eine Mail.«
    Ohne etwas zu erwidern, beendete der Serbe das Gespräch. Er legte sein Telefon auf den Tisch neben einen Stapel Straßenkarten. Zusammen mit dem einfachen Holzstuhl und dem obligatorischen Doppelbett bildete das zeichenblockgroße Möbelstück die gesamte Einrichtung des Zimmers. Die letzte Renovierung musste Jahrzehnte zurückliegen. Unübersehbar hatte die Vernachlässigung ihre Spuren an den Wänden und auf dem Fußboden hinterlassen. Die Schlichtheit und Trostlosigkeit des Raums würde sämtliche Touristen oder Geschäftsleute sofort vertreiben. Doch nicht ihn. Seit er diesem Job nachging, suchte er sich seine Unterkunft nach genau diesen Kriterien aus. Und er fand sie in jeder Stadt: die billigen Hotels, die sich nur durch ihre hochtrabenden Namen unterschieden, denen sie freilich nie gerecht wurden.
    Er drückte seinen Rücken durch und verharrte regungslos. Einzig die Bauchdecke hob und senkte sich bei seinen langsamen, flachen Atemzügen. Er schloss die Augen. Stundenlang konnte er so sitzen, seine Atmung kontrollieren und sogar für einen längeren Zeitraum anhalten. In solchen Momenten fühlte er den Puls nicht mehr, und sein Herz schien stillzustehen. Die Harmonisierung von Körper und Geist und seine vollkommene Körperbeherrschung waren der Schlüssel zu allem in seinem Leben. Diese Fähigkeit hatte in jungen Jahren seinen Erfolg auf dem Trapez erst möglich gemacht. Und heutzutage war sie schlicht unentbehrlich.
    Nur noch selten störten die Bilder, die sein Gehirn an der Grenze zwischen Wachzustand und jener Regungslosigkeit hervorbrachte. Dann hörte er die Zirkusmusik, roch die Tiere, das Sägemehl. Er spürte die Zuschauer um sich herum, wie sie ihm zujubelten, Beifall klatschten und ihn anfeuerten. Abend für Abend, bis er im Höhenrausch vergaß, seine Hände zu trocknen, und von der Trapezstange abrutschte.
    Ein kurzer Piepston seines Smartphones holte ihn aus seinen Gedanken. Er öffnete die Augen. Auf dem Display zeigte ein gelber Umschlag den Empfang einer Nachricht an. Der Mann mit der Fistelstimme beugte sich nach vorne, tippte auf das Symbol und überflog die wenigen Zeilen. Sofort löschte er die Nachricht, zog eine Straßenkarte aus dem Stapel vor sich und entfaltete sie. Schnell fand er den Ort im Südwesten Deutschlands.
    Bereits Minuten später machte sich der Mann mit einem handtaschengroßen braunen Lederkoffer auf den Weg hinunter zum Ausgang. Er hatte für die ganze Woche im Voraus bezahlt und würde nie mehr hierher zurückkommen. Zwar stimmte der Name auf dem Anmeldeformular mit dem in seinem Pass überein – aber er besaß eine ganze Handvoll von Pässen. Grußlos verließ er die Halle. Niemand hielt ihn auf. Niemand würde sich je an ihn erinnern.

2
    Sonntag, 9.   April
    Die dichten pechschwarzen Haare des Mannes saugten den feinen Nieselregen auf wie Filz. Trotzdem musste er sich jetzt die Zeit nehmen. Langsam wanderte sein Blick über das Gesicht seines Opfers. Er suchte nach einem Lebenszeichen und – nach einer Bestätigung. Bereits die weit aufgerissenen Pupillen ließen keinen Zweifel aufkommen: Wie üblich hatte er seinen Auftrag mit nur einem einzigen Schuss zu Ende gebracht.
    Schnell ließ er die Pistole mit dem merkwürdig schlanken und durch den Schalldämpfer überlangen Lauf in der Manteltasche verschwinden. Der Mann
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