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Letzte Ausfahrt Neckartal

Letzte Ausfahrt Neckartal

Titel: Letzte Ausfahrt Neckartal
Autoren: Thilo Scheurer
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strich sich eine nasse Strähne aus der Stirn und schaute sich mit unbewegter Miene um. Seine Körpergröße reichte gerade noch aus, um über das Fahrzeugdach des alten Opels hinwegschauen zu können. Trotz des geringen Wuchses wirkte seine Erscheinung athletisch und strotzte vor Kraft. Die jahrelange Akrobatik auf den Seilen hatte den kleinen Körper geschmeidig und die Muskeln hart wie Stahl werden lassen. Behände, fast katzenhaft tänzelte der Mann um das Fahrzeug herum. Nur wer genau hinsah, erkannte, dass er es dabei vermied, sein rechtes Bein zu belasten. Nach seinem Unfall auf dem Trapez hatte der Arzt gesagt, dass seine restliche Lebenszeit nicht ausreichen würde, um die komplizierten Knochenbrüche vollständig zu heilen.
    Das Handschuhfach hielt seinem Schraubenzieher keine zwei Sekunden stand. Dann brach der Deckel aus den Scharnieren. Serviceheft, Bedienungsanleitung, Straßenkarte, Notizbuch, Eiskratzer, Parkscheibe, der gesamte Inhalt fiel in den Fußraum des Wagens. Der Mann durchwühlte die Gegenstände, hob sie auf, drehte sie in jede Richtung und blätterte die Seiten durch. Was er suchte, konnte klein sein, ziemlich klein sogar. Ähnlich gründlich ging er bei den Ablagen an den Seitenteilen, dem Gepäck auf dem Rücksitz und im Kofferraum vor. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis der Mann das gesamte Fahrzeug durchkämmt hatte und aufgab. Er kramte in der Brusttasche nach seinem Mobiltelefon und wählte eine ausländische Nummer. Ein Knurren aus dem Hörer, und er sagte: »Erledigt.«
    »Gut«, lautete die ebenso knappe Reaktion. »Hast du es gefunden?«
    »Nein.«
    »Bist du sicher?«
    »Da. Ganze Auto durchsucht.« Der Mann sprach mit einem slawischen Akzent.
    »Dann verschwinde. Ich melde mich.«
    Der Mann legte auf und setzte sich in Richtung des schwarzen E-Klasse-Mercedes in Bewegung, den er am späten Abend am Stuttgarter Bahnhof gemietet hatte. Der Wagen stand erst seit einer knappen Stunde auf dem Parkplatz und sollte in der Dunkelheit niemandem aufgefallen sein. Vor dem Fahrzeug öffnete er den Deckel auf der Rückseite seines Mobiltelefons, zog die SIM -Karte unter dem Akku hervor und warf sie in hohem Bogen über das Dach. Als der Deckel wieder an seinem Platz saß, entriegelte er die Türen mit der Funkfernbedienung und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.
    Es fiel ihm leicht, Menschen zu töten. Er spürte keine Reue, keinen Zweifel. Und solange es dabei blieb, gab es keinen Grund, etwas daran zu ändern. So lautete die Vereinbarung, die er vor vielen Jahren mit sich selbst geschlossen hatte. Zufrieden mit dem Verlauf des Auftrags, zog er die Fahrzeugtür ins Schloss und griff nach der Wasserflasche auf dem Beifahrersitz. Über der Mittelkonsole, dort, wo er ein kartenspielgroßes goldenes Metallkästchen deponiert hatte, stockte er mitten in der Bewegung. Er hob den mit schwarzen und roten Ranken verzierten Deckel an. Er tupfte Zeige- und Mittelfinger hinein und verrieb das feine Pulver in den Handflächen. Ein innerer Zwang trieb ihn dazu, die Hände trocken zu halten. Früher hatte er sich vor jedem Auftritt die Finger gekalkt, heute tat er es auch danach. Als seine Haut das weiße Pulver fast gänzlich aufgenommen hatte, griff er nach der Wasserflasche. Der Mann trank jedoch nicht. Er benetzte nur seine Lippen und verstaute die Flasche in der Türablage.
    Hätte er nach seiner Abfahrt ein weiteres Mal in den Rückspiegel geschaut, wäre ihm vermutlich der silberfarbene BMW 318 i aufgefallen, der seinen Parkplatz ansteuerte. Doch dafür hatte er keine Augen. Sekunden später fädelte er den schwarzen Mercedes in den bereits wieder zunehmenden Verkehr Richtung Stuttgart ein. Um halb fünf Uhr ging der erste Zug. Und den wollte der Mann unbedingt erreichen.
    * * *
    Mehmet Bayram fühlte sich großartig, als er seinen silbernen BMW auf dem Parkplatz der Rastanlage ausrollen ließ. Das lag nicht nur an dem Wagen, sondern auch an Vanessa, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. Zuerst hatte sie sich zickig angestellt. Als jedoch ihre Freundin Sandra mit Viktor und seinem nagelneuen roten Golf GTI eine Spritztour zur nahen Raststätte machen wollte, hielt auch Vanessa nichts mehr in der Diskothek.
    Fraglos besaß Viktor das teurere Auto, auch das mit mehr PS , aber Mehmet hatte einen BMW . Und die Mädels standen alle auf BMW – jedenfalls die, die er kannte. Dass der Wagen bald acht Jahre alt war, sah ihm bei Nacht niemand an. Eigentlich mochte Mehmet seinen BMW , wenn da
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